Fünf Thesen zu politischen Karrieren
Anlässlich der anstehenden Kabinettsbesetzung in Baden-Württemberg - Auffallen, um aufzusteigen?

Der baden-württembergische Landtag in Stuttgart. Symbolfoto: dpa
Von Sören S. Sgries
Heidelberg. Für den früheren US-Präsidenten Theodore Roosevelt schien Anfang des 20. Jahrhundert klar, wie man in einer Demokratie Erfolg hat. "Der erfolgreichste Politiker ist der, der das sagt, was alle denken, und der es am lautesten sagt", lautet ein bekanntes Zitat von ihm. Doch stimmt das? Und wie passt das zum unter aktiven Politikern so beliebten Max-Weber-Wort, wonach Politik "ein starkes langsames Bohren von harten Brettern" sei? Anlässlich der anstehenden Kabinettsbesetzung in Baden-Württemberg ein paar Thesen zu politischen Karrieren.
I. Auffallen hilft beim Aufstieg
Eigentlich eine banale Erkenntnis, aber: Wer nicht wahrgenommen wird, der wird sich auch schwer tun beim Aufstieg. Das kann durch fachliche Expertise gelingen, aber gerade in demokratischen Strukturen, wo Mehrheiten gewonnen werden müssen, spielt öffentliche Wahrnehmung eine große Rolle. Aufmerksamkeit gewinnt am leichtesten, wer eine starke Meinung pointiert vertritt.
Ein Beispiel: Kevin Kühnert, der ehemalige Juso-Chef. Sein Aufstieg innerhalb der SPD gelang nahezu aus dem Nichts, weil er als energischster Gegner der "Großen Koalition" auftrat, auch gegen alle Widerstände der Spitzengenossen. Kühnert machte sich zum Sprachrohr der NoGroko-Gruppe innerhalb der SPD.
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Ein anderes Beispiel: Boris Palmer, der grüne Tübinger Oberbürgermeister. Der 48-Jährige besitzt das Talent, mal mit provokanten Aussagen, mal mit prestigeträchtigen Projekten die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ob es um die Bewältigung der Flüchtlingskrise ging oder aktuell um die Corona-Politik: Der Unistadt-OB versteht es, in bundesweiten Debatten mitzumischen, die eigentlich weit jenseits seines direkten Einflussbereichs geführt werden.
II. Klassische Strukturen notwendig
Palmer nutzt zwar insbesondere seinen Facebook-Account, um Ideen "anzutesten" und Debatten zu starten. Letztlich bleibt Politik, die mit Provokation arbeitet, aber auf "klassische" Strukturen als Resonanzräume angewiesen. So greifen einerseits traditionelle Medien Palmers Themen auf. Der letzte große Aufreger-Satz ("Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären") fiel im Frühstücksfernsehen. Auf der anderen Seite kultiviert Palmer seinen "Rebellenstatus", indem er gerne mit seiner eigenen Partei überkreuz gerät. Und er hat Substanz: Als Rathauschef in Tübingen beweist er, dass er nicht nur nette Sätze formulieren, sondern auch praktische Politik gestalten kann.
III. Einzelkämpfer scheitern
Facebook, Instagram, Telegram, Twitter: Wer auf sich aufmerksam machen will, hat inzwischen viele Möglichkeiten. Karrieren wie die der Polit-Influencerinnen Lilly Blaudszun (SPD) oder Diana Kinnert (CDU), die erst Zehntausende auf Twitter und Instagram für sich interessierten und inzwischen Zugang zu höchsten Regierungskreisen haben, sind möglich – die 19-jährige Blaudszun beispielsweise gehört zum engen Wahlkampfteam von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern.
Allerdings: Als Einzelkämpfer komplett gegen die Parteistrukturen ist dauerhafter Erfolg nahezu unmöglich. Kevin Kühnert lies sich darum bei der SPD einbinden. Palmer verpasste das, scheint sich viele Karrierechancen verbaut zu haben (etwa den Sprung in ein Ministeramt), weil ihm die Grünen-Führung die Alleingänge verübelt.

Ein anschauliches Beispiel einer kompletten Selbstdemontage: Der ehemalige Porsche-Beitriebsratsvorsitzende Uwe Hück hatte versucht, in Pforzheim politisch Fuß zu fassen. Die SPD konnte ihn zunächst bei der Kommunalwahl einbinden, er brachte zahlreiche Stimmen. Zum Streit kam es dann allerdings, als es um weitere Ambitionen Hücks für den Bundes- und Landtag ging. Er brach mit der SPD, gehört jetzt zu den Gründern einer neuen, ziemlich chancenlosen Kleinstpartei. Ein zu großes Ego, das ins Abseits führte.
IV. Mit Macht schwinden Freiheiten
Je höher man politisch steigt, desto gefährlicher können die Fähigkeiten werden, die einen einst so beliebt machten. Erinnert sei an den ehemaligen Ministerpräsidenten und EU-Kommissar Günther Oettinger. Am CDU-Stammtisch und im Hinterzimmer mag es mit ihm bestimmt einige lustige Abende gegeben haben – als er aber während der EM 2008 als Regierungschef Bier aus einem Herren trank, empörte sich die Opposition. Auch für einiges "salopp" Dahingesagte musste er sich in seiner Karriere rechtfertigen.
Übrigens: Selbst Winfried Kretschmann, wahrlich kein Provokateur, musste schon feststellen, wie heikel flotte Sprüche werden können. Dass er einmal klagte, in seiner Dienst-Limousine, einer S-Klasse, hocke er "wie eine Sardine in der Büchse", fand die Autoindustrie wenig amüsant. Und seine eigene Partei rieb sich daran, dass ihr Ministerpräsident über "Tunichtgute" und "Männerhorden" schimpfte.
V. Neue Zeiten, neue Karrieren?
Bleibt zum Abschluss die Frage: Sind Selbstdarsteller-Karrieren überhaupt noch zeitgemäß? Zweifel sind angebracht, schaut man auf das aktuelle Spitzenpersonal. So galt Kretschmann nicht unbedingt als strahlender Selbstvermarkter – er startete mit unbequemen Überzeugungen in die Politik, wartete Jahrzehnte, bis seine Zeit gekommen war. Und auch auf Bundesebene stehen derzeit nicht diejenigen "Alphatiere" in der ersten Reihe, die mit Schlagzeilen Politik machen.

Im Gegenteil. Armin Laschet erkämpfte sich in zähem Ringen die Unions-Kanzlerkandidatur gegen Umfrage-Liebling Markus Söder. SPD-Kandidat Olaf Scholz ist auch eher Arbeiter als Provokateur. Und bei den Grünen stach mit Annalena Baerbock ebenfalls eine faktenfeste Sachpolitikerin den Co-Parteichef aus.
Um die Zitate vom Anfang aufzugreifen: Vielleicht setzen sich in der Politik gar nicht diejenigen durch, die am lautesten sagen, was alle denken. Sondern diejenigen, die klare Überzeugungen haben – und das Geschick, die Ausdauer und auch die Demut, sich dafür einzusetzen. Solche also, die tatsächlich Bretter bohren – und nicht nur Plakate hochhalten.



