Warum die Grundschul-Empfehlung zu Konflikten mit Eltern führt
"Die Treffergenauigkeit liegt nicht sehr hoch": Edgar Bohn, Vorsitzender des Grundschulverbands, zweifelt an der verbindlichen Grundschulempfehlung.



Vorsitzender des Grundschulverbands Baden-Württemberg
Von Sören S. Sgries
Heidelberg/Stuttgart. Mit der geplanten Rückkehr zum längeren G9-Gymnasium verbindet die Landesregierung eine weitere Reform: Die Grundschulempfehlung soll wieder verbindlicher werden. Lehrermeinung, Leistungstest und zusätzlicher "Potenzialtest" sollen künftig entscheidend sein – und nicht die Meinung der Eltern. Wie die Pläne an den Grundschulen ankommen, darüber spricht Edgar Bohn, Vorsitzender des Grundschulverbands Baden-Württemberg.
Herr Bohn, das Kultusministerium wirbt für die neue Grundschulempfehlung, die "aussagekräftiger" werde. Ist das ein Eindruck, den Sie teilen? Und stimmen Sie zu, dass es besser werden wird durch die neue Verbindlichkeit?
Sie merken meinen Zögern. Nein, wir stimmen da nicht zu, weil wir ein grundsätzliches Problem haben. Unser Schulsystem ist ja auf Segregation eingestellt. Was wir also jetzt tun müssen in der Grundschule, ist nichts anderes als das, was wir schon jahrelang tun. Nur etwas präziser – oder zumindest versucht man, es genauer zu fassen. Nämlich eine Prognose zu formulieren, wie sich Schüler im zehnten Lebensjahr entwickeln werden.
Und das halten Sie nicht für möglich?
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Es ist völlig klar, dass so eine Prognose nur sehr oberflächlich sein kann. Die Treffergenauigkeit liegt nicht sehr hoch. Denken Sie nur an die Pubertät, die folgt. Das heißt, wir haben die grundsätzliche Kritik zunächst mal an der Tatsache, dass nach vier Jahren in Baden-Württemberg die Kinder getrennt werden, mit verschiedenen Schulsystemen.
Wir haben jetzt in Baden-Württemberg mindestens vier Parallelsysteme in der Sekundarstufe. Es gibt 18 Länder, die sowas machen. Weltweit. 16 davon in Deutschland. Das sagt eigentlich schon ziemlich viel. Wir wollen eigentlich keine Segregation, sondern wir wollen, dass die Kinder optimal nach ihren Möglichkeiten gefördert werden.
Das heißt, Ihr Ideal wäre eigentlich gewesen, man verlängert die gemeinsame Grundschulzeit?
Richtig, ja. Man verlängert die Grundschulzeit, verzichtet im zehnten Lebensjahr auf diese sehr ungewisse Prognose, auch wenn man diese jetzt versucht zu unterfüttern mit einem neuen Instrument, "Kompass 4" genannt.
Noch einmal: Die Unwägbarkeiten sind einfach zu groß. Wir sind überzeugt, dass weiter die Chancenungerechtigkeit bewahrt wird. Eine Reihe von Kindern, die auch das Zeug hätten, auf eine höhere Schule zu gehen, wird gar nicht so weit kommen.
Eigentlich hätte ich erwartet, Sie als Pädagogen, als Grundschullehrer, verteidigen Ihre Expertise für die schulische Entwicklung von Schülern.
Ich habe es ja schon erwähnt: Denken Sie an die Pubertät! Was sich da alles verändert – da wird eigentlich jede Prognose zum Glückstreffer. Natürlich haben wir schon eine Ahnung, was die Kinder können. Aber wir müssen ja auch berücksichtigen, mit welchen enormen Unterschieden die Kinder in die Schule kommen. Ich habe gerade einen Text von Professor Klaus Zierer gelesen.
Er spricht davon, dass Kinder aus "gehobeneren Familien" bis sie in die Schule kommen mit etwa einem Wortschatz von 450.000 Wörtern konfrontiert werden. Dem stehen gegenüber Kinder aus anderen Schichten, die mit maximal 150.000 Wörtern konfrontiert werden. Dieses Defizit werden wir in vier Jahren nicht komplett aufarbeiten können.
Jetzt sehen die Bildungsreformen ja durchaus eine Stärkung gerade im vorschulischen Bereich und bei den Jüngsten vor. Das ist doch die Richtung, die Sie fordern?
Ja, das begrüßen wir sehr, dass endlich mal der Fokus auf die Grundschule gelegt wird. Und das nicht nur mit vielen guten Worten, sondern auch mit finanziellen Unterstreichungen. Wir sind ja eigentlich immer noch unterfinanziert als Grundschule und mit Aufgaben überfrachtet. Noch nicht ganz klar sind für uns die Konturen, wie das im Einzelnen passieren wird. Also was zum Beispiel die Juniorklassen angeht, wer diese Kinder unterrichten wird, ob es da "nur" um Sprache geht oder um weitere erforderliche Fähigkeiten, die die Kinder haben müssen, um erfolgreich die Schule zu bestehen. Das ist für uns noch offen.
Wer hat denn jetzt seine Interessen bei der Grundschulempfehlung durchgesetzt, wenn Sie als Lehrer skeptisch sind?
Zunächst mal die weiterführenden Schulen, speziell Gymnasien und Realschulen, die sich ja beklagen und sagen, durch die Aufhebung der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung hätten sie ganz viele Kinder bekommen, die in unserem Schulsystem eigentlich verloren haben. Das war der eine Grund. Und möglicherweise gibt es auch einen anderen Grund. Und zwar sind die Kinder, die aus "gehobenen" Familien kommen, so im Vorteil. Die Idee, dass die Schule zum sozialen Aufstieg beiträgt, die stimmt ja für Deutschland nicht. Das sagen ja alle Pisa-Ergebnisse.
Verstehen Sie denn grundsätzlich den Wunsch der Gymnasialkollegen, dass für sie vorsortiert wird? Oder haben Sie da kein Verständnis für?
Meine Frau war selbst Gymnasiallehrerin. Wir haben da immer gerangelt, wir waren nicht unbedingt einer Meinung. Wenn man die Idee einer Eliteschule für richtig hält, dann muss man auch überlegen, wie kommen wir denn an die Elite heran? Gibt es da Auswahlkriterien? Aber man kann ja auch an dieser Idee einer Eliteschule zweifeln. Gibt es da nicht andere Möglichkeiten, die übrigens auch sozial verbindlicher wären? Wenn man alle Vertreter aus allen sozialen Schichten länger gemeinsam unterrichten würde, hätte das unseres Erachtens auch demokratische Vorteile.
Fürchten Sie, dass zum Ende des nächsten Schuljahres neue Konflikte zwischen Grundschullehrkräften und Eltern um Testergebnisse und Empfehlungen aufbrechen?
Ja. Wobei wir möglicherweise doch nicht in die alten Muster zurückfallen. Früher, als allein die Grundschulempfehlung noch verbindlich war, ging der Ärger ja tatsächlich auf die Grundschullehrer. Jetzt könnte es sein, dass mit diesem "Kompass" der Ärger möglicherweise an uns vorbeigeht. Aber sicher ist für uns, dass eine Reihe von Eltern dagegen vorgehen werden, wenn sie meinen, ihr Kind soll auf das Gymnasium. Mit allen Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen. Die Konflikte werden nicht geringer werden.