Baden-Württemberg

Warum Gymnasien wegen G9-Rückkehr unter Zeitdruck stehen

"Alle freuen sich, dass das G9 zurückkehrt": Martina Scherer, Vorsitzende des Philologenverbands Baden-Württemberg, im RNZ-Interview.

03.09.2024 UPDATE: 03.09.2024 04:00 Uhr 3 Minuten, 26 Sekunden
Symbolfoto: dpa
Interview
Interview
Martina Scherer
Vorsitzende des Philologenverbandes Baden-Württemberg

Von Tanja Wolter, RNZ Stuttgart

Stuttgart. Martina Scherer ist seit Juli Vorsitzende des Philologenverbandes Baden-Württemberg. Die 45-Jährige lebt in Waldbronn im Nordschwarzwald und unterrichtet Mathematik und Musik am Reuchlin-Gymnasium in Pforzheim.

Frau Scherer, Sie sind mitten in die laufenden Debatten über die Bildungsreformen ins Amt gekommen. Konnten Sie in den Sommerferien trotzdem etwas verschnaufen?

Ich habe mir eine Woche Urlaub in Italien gegönnt, mehr war durch die Übergabe nicht möglich. Aber ich war ja vorher schon Stellvertreterin, kenne unsere Abläufe und die Ansprechpartner in der Bildungspolitik. Das macht es leichter. Und ich wusste, worauf ich mich einlasse.

Sie sind selbst Lehrerin für Mathematik und Musik an einem Gymnasium in Pforzheim. Bleiben Sie dabei?

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Ich möchte weiterhin unterrichten, zumindest einen Tag pro Woche. Ich freue mich auch richtig auf das neue Schuljahr. Unser Job ist toll! Ich darf kreativ sein, kann jungen Menschen etwas beibringen und habe jeden Tag neue Herausforderungen und die Chance, etwas zu gestalten.

Die Kampagne des Landes im vergangenen Sommer, die den Lehrerberuf unter anderem wegen der langen Schulferien schmackhaft machen wollte, fand ich falsch. Ferien sind der falsche Grund, um Lehrer zu werden.

Die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium wird zwar erst im übernächsten Schuljahr vollzogen, also 2025/2026. Aber im neuen Schuljahr muss alles vorbereitet werden. Was passiert jetzt?

Im Moment befinden wir uns in der Anhörung zur Schulgesetzänderung, dazu reichen wir jetzt unsere Stellungnahme ein. Ich glaube nicht, dass das Gesetzesvorhaben vor Januar 2025 abgeschlossen sein wird. Die Politik muss aber bereits jetzt hinter den Kulissen inhaltliche Festlegungen treffen: Wie werden die Stundentafeln in den Klassen 5 und 6 mit der Stärkung von Deutsch, Mathe und der ersten Fremdsprache aussehen?

Wo wird was verortet? Brauchen wir zusätzliche Fachkräfte? Kultusministerin Theresa Schopper hat vor den Ferien nicht gerade viel erläutert. An den Schulen hätte man sich mehr Informationen gewünscht. Wir alle scharren mit den Hufen.

Das G8 soll zusätzlich zum G9 weiter möglich sein. Müssen die Schulen nicht schnell darüber entscheiden, ob sie beide Züge ermöglichen?

Auch dazu gibt es noch keine sichere Aussage. Spätestens im Winter, wenn für künftige Fünftklässler die Tage der offenen Tür stattfinden, müssen die einzelnen Gymnasien wissen, ob sie auch G8-Züge haben werden oder nicht. Wer darüber entscheidet, ist mir noch unklar.

Sie selbst haben das G8 als Lehrerin viele Jahre erlebt. Welches Fazit ziehen Sie?

Ich hatte gerade erst mein Klassentreffen, viele ehemalige Klassenkameradinnen und Klassenkameraden von mir haben Kinder, die bald in die fünfte Klasse kommen. Und alle freuen sich genau wie ich, dass das G9 zurückkehrt. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass die Schülerinnen und Schüler nicht mehr den ganzen Tag im Unterricht sitzen müssen, sondern mehr Zeit für Freizeit und ehrenamtliches Engagement oder Vereinsleben bleibt. Allerdings gibt es räumliche Unterschiede bei den Bedürfnissen der Betreuungsangebote für die Familien.

Ich persönlich wünsche mir, dass es auch an den Schulen mehr Möglichkeiten für gemeinsame Aktivitäten außerhalb des Unterrichts gibt. Wir leben in einer Zeit der Individualisten, was grundsätzlich gut ist. Aber die Individualität muss auch wieder in die Gesellschaft eingebracht werden können, um diese stark zu machen, das ist eine große Aufgabe nicht nur für die Schulen, sondern für die Gesellschaft als Ganzes.

Mit dem G9-Beschluss wird auch das neue Schulfach Informatik/Medienbildung eingeführt. Ihr Verband wollte ein reines Informatik-Fach. Warum eigentlich?

Als Verband haben wir uns schon immer für das originäre Fach starkgemacht. Aus unserer Sicht würde das neue Schulfach mehr davon profitierten, wenn es nur Informatik hieße. Das bedeutet aber nicht, dass es dann inhaltlich abgeschlossen ist. Das Stereotyp von den Fachlehrkräften an Gymnasien, die nicht über ihren Tellerrand hinausschauen, ist falsch. Es gibt jetzt schon viele Schnittstellen zwischen einzelnen Fächern und im Unterricht. Bei dem neuen Schulfach stellt sich mir aber auch die Frage, ob 45 Minuten pro Woche für Informatik und Medienbildung ausreichen. Das ist ein sehr knappes Zeitfenster bei so einem großen Thema.

Für das G9 werden zunächst weniger Lehrkräfte benötigt, später dann aber mehr. Was halten Sie von der Idee, junge Lehrkräfte befristet an anderen Schularten einzusetzen und dann später an die Gymnasien zu holen?

Wenn das so kommt, wäre es gut. Allerdings wurde das schon einmal so versprochen und nicht eingehalten. Wir können uns aber auch vorstellen, gymnasiale Nachwuchskräfte an ihrem Standort in anderen Schularten als Krankheitsvertretung einzusetzen. Natürlich ist so ein Schulhopping nicht sonderlich attraktiv, es wäre aber eine Option für junge Lehrkräfte, die ihre Stadt nicht verlassen wollen oder können, weil sie schon Familie haben oder einen Partner mit festem Arbeitsplatz.

Sie müssten dann aber sicher sein können, dass sie nach zwei, drei Jahren an das gewünschte Gymnasium geholt werden. In der Endstufe des G9-Aufbaus wird man 2000 zusätzliche Lehrkräfte einstellen müssen.

Sind denn durch das G9 Auswirkungen auf andere Schularten zu befürchten?

Ich glaube nicht, dass es einen ‚Run‘ auf die Gymnasien geben wird. Bei der Grundschulempfehlung wäre es aber besser, wenn die Verbindlichkeit nicht nur beim Übertritt auf die Gymnasien, sondern für alle Schularten gelten würde. Das Tolle am baden-württembergischen Schulsystem ist seine Durchlässigkeit, und die kann durch das G9 meiner Meinung nach sogar gestärkt werden. Uns fehlen Handwerker, die werden nicht am Gymnasium ausgebildet. Dafür braucht es starke andere Schularten – die Vielfalt zeichnet unser Schulsystem aus.

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