Von Arnd Janssen
Heidelberg. Tag für Tag sitzt er auf der Treppe der Heiliggeistkirche mit Blickrichtung in die Steingasse. Vor sich aufgebaut hat er die unterschiedlichsten Pflanzen und andere Gegenstände, die er auf seinen vielen Reisen finden konnte. Es ist der einzige Besitz, den er hat. Javi nennt sich der Mann. Er ist 56 Jahre alt und "Pilger". Und das schon seit mehr als 30 Jahren. Seinen richtigen Namen hat er abgelegt, denn dieser gehöre zu einem alten Leben, sagt er. Seit Ende Juli, also seit mehr als 80 Tagen, sitzt er nun an der Heidelberger Heiliggeistkirche. Die kleine Treppe vor dem alten Seitentor ist sein Reich.
Wer Javi und seine Beweggründe verstehen möchte, muss sich Zeit nehmen und zuhören. Denn der Mann mit dem langen blond-grauen Haar und Rauschebart spricht gerne mit Passanten und hält für jeden, der möchte, ein nettes Wort oder ein Gedicht bereit. "Hallo, einen schönen Tag", sagt er und lächelt eine asiatische Touristin an, die gerade die Heiliggeistkirche fotografieren will. Sie ist kurz irritiert, lächelt dann aber zurück. "Ich bin schon recht bekannt, viele in der Altstadt kennen mich", Javi und lacht.
Er selbst bezeichnet sich zwar als gläubig, allerdings nicht als religiös. "Die Religion möchte doch den Menschen indoktrinieren", sagt er. Vor vielen Jahren sei der katholisch geprägte Rheinländer, der aus dem Aachener Raum stammt, aus der Kirche ausgetreten. Ein Grund dafür war die Enttäuschung in die Institution, die Geistliche nach dem Bekanntwerden der zahlreichen Missbrauchsfälle selten oder gar nicht bestraft habe.
Aber auch intolerantes Verhalten von Christen beschäftige ihn. "Eines der wichtigsten Gesetze ist ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘, denn das fasst alle anderen Gebote zusammen." Er könne nicht erkennen, dass die Kirche dies befolge.
Er selbst versuche, es besser zu machen. "Mein Nächster ist derjenige, der mir begegnet, ob Moslem, Jude, Christ, welches Geschlecht oder Hautfarbe auch immer - ist doch egal!", sagt Javi: "Gott ist für mich eine Energieform, die das ganze Universum durchdringt und uns herausfordert: Sei, lebe!" Religionen allerdings würden den Weg zu Gott verschließen.
"Ich war in der häuslichen Altenpflege tätig, doch irgendwann musste ich aufhören", erzählt der 56-Jährige. Er war frustriert über den Berufsstand und wie schlecht die Gesellschaft Pflegebedürftige behandele. Deshalb machte er sich auf Wanderschaft und hat sich seit über 30 Jahren kaum längere Zeit irgendwo niedergelassen. Einige Jahre hatte er im andalusischen Málaga gelebt und versuchte sich dort als Straßenkünstler. "Ich hatte eine bewegte Zeit und habe viele tolle Menschen kennengelernt, aber auch dieser Lebensabschnitt war irgendwann zu Ende."
Heidelberg besucht er seit etwa 13 Jahren. Er hat die Stadt lieben gelernt. Vor drei Jahren nahm er sich hier eine Wohnung, verlor diese aber im Juli dieses Jahres und zog danach an die Heiliggeistkirche um. Sein Lebenslauf enthält Lücken und Ungereimtheiten, aber das ist ihm egal. Javi lebt lieber im Hier und Jetzt: "Man darf nichts erwarten, sondern muss Dinge geschehen lassen." Die Altstädter akzeptierten ihn, aber: "Ich glaube, sie mögen mich nicht wegen meiner Einstellungen und Ansichten."
Liebevoll stellt Javi jeden Morgen seine Pflanzen und Habseligkeiten neu auf die Kirchentreppe. "Sie müssen harmonieren, da drücke ich mich künstlerisch aus." Und er darf sie vorerst dort stehen lassen. Seine Anwesenheit ist von der evangelischen Altstadtgemeinde mittlerweile nicht nur geduldet, sondern sogar erlaubt.
Der belesene Weltenbummler hat sich viel mit Philosophie beschäftigt. Als Teil seiner Lektüre zählt er Sokrates, Platon aber auch "neuere Autoren" wie Nietzsche. Vor allem Letzteren mit seinem "Der Antichrist", in dem die Kirche als blasphemische Institution beschimpft wird, hat Javi interessiert gelesen.
Viel Zeit zum Sinnieren fand er beim Pilgern. Santiago de Compostela, der Petersdom in Rom oder die Westminster Abbey in London: An all diesen Orten ist Javi schon gewesen. "Ich pilgere für die Erfahrungen auf dem Weg", sagt der Weitgereiste, "sie erfüllen mich und machen mich zufrieden". "El Peregrino", so lautet Javis spanischer Name, kann mitreißend davon berichten.
Dabei sei er sich stets der Nähe Gottes bewusst gewesen. Während eines krachenden Unwetters auf dem Petersplatz habe ihn das Kreuz auf dem vatikanischen Obelisken vor einem Blitzeinschlag beschützt, einst wurden ihm während einer langen Wanderung unverhofft neue Schuhe zur Verfügung gestellt, ein anderes Mal durchströmte ihn eine neue Kraft, als sein Körper völlig erschöpft war.
Sein Leben dreht sich auch um die Einsamkeit. Diese habe ihm zugleich aber auch Aufmerksamkeit verschafft. Die Menschen kämen zu ihm, weil er auffalle. An der Heiliggeistkirche klappe das besonders gut. "Hier strömen Menschen von überall her, aus drei Richtungen, hier kommt also quasi die ganze Welt zu mir und ich muss nicht zu ihr", beschreibt der "Pilger" humorvoll seinen Lieblingsplatz, an dem man nicht nur Gewimmel, sondern auch Ruhe finden könne.
Javi wünscht sich nun ein Dach über dem Kopf, etwas, wo er es warm und trocken hat, vor allem angesichts der herannahenden kalten Tage. Der 56-Jährige ist an Multipler Sklerose erkrankt und daher bewegungstechnisch stark eingeschränkt. Die Kälte und Feuchtigkeit tun ihm nicht gut.
Die mehr als 80 Tage im Freien habe er als hart empfunden, eines Tages sei er im Schlaf sogar von Dieben überrascht worden. "Ich hoffe, es wird jemand auf mich zukommen und mir eine Bleibe anbieten", so Javi. Solange wird er weiterhin versuchen, seine Mitmenschen zu erfreuen: "Wenn ich jeden Tag in nur einem Menschen einen Funken entfache, bin ich zufrieden."