Von Simone Schölch
Mudau. Der typische Odenwälder ist keine Plaudertasche. Vor allem im ehelichen Miteinander sagt er lieber drei Sätze zu wenig als ein Wort zu viel. Mit einer regelmäßig wiederkehrenden Ausnahme; dann nämlich, wenn er die Kette der Motorsäge liebevoll geschärft, die Schnittschutzhose angezogen und mit ziemlich überladenem Anhänger die Kreisgrenzen für einen langen Tag hinter sich gelassen hat. Sein Ziel: ein Christbaumverkaufsstand, wahlweise mitten in der Stadt, mitten auf dem Parkplatz eines Einkaufscenters oder auch mitten in der Pampa. Dort mutiert selbst der wortkargste Zeitgenosse zu einem eloquenten Verkaufstalent und zieht seine Register wahlweise im Genre Frauenversteher, Kinderfreund, Kumpeltyp oder Forstexperte mit erstaunlichen Kenntnissen. Auch Mischformen sind häufig - die zeichnen im Übrigen den wahren Starverkäufer aus.
Fakt ist, dass Landwirte vor allem im Raum Mudau, Limbach, Elztal und Waldbrunn schon früh in der Anpflanzung von Christbäumen auf ihren schlechteren Böden eine zusätzliche Einnahmequelle gesehen haben. Das ist keine Erfindung der letzten Jahrzehnte - nur die Größe der Plantagen, die mittlerweile höchst umstritten sind, hat stetig zugelegt.
Längst ist das "große" Geschäft in den Händen von rund einem Dutzend Großhändlern, die die Bäume überwiegend selbst anpflanzen, teilweise aber auch aus Dänemark beziehen. Für sie machen sich in den Wochen vor Weihnachten Hunderte von Männern jeden Alters - Frauen sind in diesem rauen Geschäft bei Wind und Wetter die absolute Ausnahme - auf den Weg, um Zigtausende von diesen original oder auch nicht so original Odenwälder Bäumen an den Mann oder an die Frau zu bringen.
Das kann ein lukratives Geschäft sein - risikoreich und hart ist es in jedem Fall. Wer sich am heftig umkämpften Markt halten will, der muss gute Ware zum fairen Preis haben, ideal gelegene Plätze anmieten (für die, je nach Lage, gerne eine fünfstellige Pachtsumme fällig wird) und natürlich die richtigen Verkäufer vor Ort stellen.
Womit wir wieder bei den Heerscharen von Odenwäldern wären, die sich unter Aufopferung eines Gutteils ihres Jahresurlaubs am frühen Morgen in Thermounterwäsche und mit prall gefüllter Vespertasche aufmachen, um am Abend beim gemeinsamen Essen von einem "guude Daach" - also von vielen verkauften Bäumen - zu prahlen. Samt Schilderungen der individuellen Erlebnisse, gerne blumig ausgeschmückt. Denn erlebt wird schon so einiges an den Ständen. Da kauft schließlich ein bunter Querschnitt dessen ein, was der Herrgott an Menschlichem geschaffen hat: zickige Damen, denen ein Baum zu schmal, der andere zu breit und das 16. eigens ausgepackte Exemplar dann doch "zu nackt um die Spitze" ist.
Oder die genervte Familie, bei der die Dreijährige angesichts der Ignorierung ihrer sehr speziellen Wünsche wie auf Knopfdruck einen Heulkrampf bekommt. Oder der schnell entschlossene Mann mit seinen Söhnen, von denen der jüngere altklug feststellt: "Ist eh egal, was wir nehmen, die Mama schimpft immer."
Oder obercoole Twens, die die Frage nach dem gewünschten Aussehen des Baums mit einem gechillten "grün" beantworten. Schön auch die Geschichte von dem Türken, der alljährlich einen Baum kauft: "Weißt Du, wir sind Moslems, aber die Kinder wollen auch Weihnachten feiern. Also machen wir das ein bisschen." Es kommen die Großzügigen, die Knausrigen, die, die handeln wollen - und immer wieder auch die, die tatsächlich arm sind, aber nicht auf einen Baum verzichten wollen.
Ein guter Verkäufer findet für alle den richtigen Baum in der richtigen Qualität zum richtigen Preis, auch wenn manchmal ein wenig Überzeugungsarbeit zu leisten ist, getreu dem Motto: "Auch bei drei hässlichen Bäumen ist immer einer der Schönste." Überhaupt liegt die Schönheit im Auge des Betrachters. Zwar dominiert die ursprünglich aus dem Kaukasus stammende Nordmann-Tanne schon lange und hat die früher beliebte Blautanne und erst recht die einfache Rotfichte verdrängt.
Sehr selten, aber doch immer mal wieder finden aber auch Exoten wie Schwarzkiefern, Nobilis oder die Kolorado-Tanne Abies Concolor ihre Liebhaber. Der versierte Christbaumverkäufer kennt sich mit allem aus, begrüßt seine Stammkunden herzlich, hört sich in ruhigeren Stunden gerne auch mal das eine oder andere Schicksal an, gibt Ratschläge in allen Lebenslagen, preist seine Bäume an - und verwandelt sich zu Hause sehr schnell wieder in den wortkargen Odenwälder.
Als hätte er sich auf dem Stand für mindestens ein Jahr verausgabt, rein gesprächstechnisch gesehen. Das einzige, was die Gattin dann bis mindestens Ostern an dieses "andere Leben" erinnert, sind Tannennadeln: In den Polsterritzen, in den Hosentaschen oder in den schwer zugänglichen Stellen der Vesperbox. Und irgendwie kann sie es verstehen, dieses "Christbaumfieber". Auch, wenn sie es nie zugeben würde.