Von Philipp Weber
Weinheim. Und dann singen sie. "Das Lied zieht durch", ruft Vorortsprecher Stephan Werner. Auf der Empore schmettert die Kapelle die ersten Takte des Wachenburg-Lieds. Im Saal donnert der Studentenchor aus 380 Kehlen drauflos. Zum Refrain schwingt man(n) die Mützen. "Gott schütz den Ort, wo die Wachenburg steht!"
Auf den Tischen reihen sich Biergläser, Kellner bringen Nachschub. Die Luft wabert vor Bierdunst und Zigarettenrauch: Der Festsaal der Wachenburg ist am frühen Samstagabend eine Kneipe. Der Kommers der Weinheimer Studentencorps und ihrer Gäste hat seinen Höhepunkt erreicht.
Gut zwei Stunden zuvor bringen Kleinbusse und Taxis die Corpsstundenten auf die Burg. Wer nicht beim Kommers im Festsaal oder bei den "Füchsen" im Keller feiert, nutzt die Burgterrasse, um sich auf den spätabendlichen Fackelzug in die Innenstadt vorzubereiten.
Auf dem Burggelände stehen an jeder Ecke Bierkrüge, allerorten trifft man auf Corpsstudenten. Der Gang auf die ständig besetzte Toilette gerät zu einem geordneten Einbahnstraßenkringel. Einige Studenten tragen "Vollwichs": Reitstiefel und Kneipjacke. Albrecht Fehlig, Pressesprecher der Weinheimer und Kösener Corps, hat die passende Erklärung parat: "Im 19. Jahrhundert pflegten Studenten sonn- und feiertags auszureiten."
Dabei wollte man die Zugehörigkeit zu seinem Corps demonstrieren. "Eigentlich gehören zu den Stiefeln noch Sporen", tadelt er spaßeshalber - und meint den Ersten Vorortsprecher Werner.
Dem Studenten aus dem Stuttgarter Corps Rhenania ist nicht nach Scherzen zumute: Dem jährlich wechselnden "Ersten Vorort" und seinem Team obliegt die Organisation der Weinheim-Tagung. Der 25-Jährige trägt die Verantwortung für den reibungslosen Ablauf von Kommers, Fackelzug und Großem Zapfenstreich.
Von Anfang an Verantwortung übernehmen: Dieses Prinzip können Fehlig und der Zweite Vorstand der Weinheimer Altherrenverbands (WVAC) Thomas Deckers gar nicht oft genug unterstreichen: Die Alten Herren - die nicht unbedingt "alt", aber bereits berufstätig sind - haben zwar die Kohle, wie Deckers einräumt. Ansonsten aber sind sie Gäste, bewähren müssen sich die Jungen.
Das gilt auch innerhalb der Corps: "Der Convent ist so etwas wie der liebe Gott. Seine Entscheidungen werden befolgt." Stehen weit reichende Entschlüsse an, müssen die Neulinge zuerst abstimmen, um nicht von den Älteren beeinflusst zu werden. "Jeder muss von Anfang an für sein Corps gerade stehen."
Der Münchner Jurist und Ex-Vorort Daniel Saftig hat für seine Vorort-Tätigkeit eigens ein Jahr Unipause genommen. "Es hat sich gelohnt, ich habe selten so viele interessante Menschen kennengelernt, wie in diesem Jahr."
Sein Nachfolger Stephan Werner sorgt jetzt für Ordnung: Während des Festvortrags macht sich in den hinteren Ecken des Saals Unruhe breit. Er greift ein, droht einem der Störer mit Rauswurf.
Die Rede selbst stammt von dem Burschenschaftler Dr. Axel Bernd Kunze - dem Angehörigen einer Verbindung, mit der man als Corpsstudent eigentlich nicht verwechselt werden will. Kunze ist Privatdozent und Leiter der Evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik in Weinstadt. Er spricht über die alten Ideale der Universitätsbildung und das, was Bologna-Reformen und Gender-Debatten daraus gemacht haben.
Die Rede folgt - sofern man das als Laie beurteilen will - einer konservativen Linie, ist keineswegs misslungen, aber sehr akademisch geprägt. Am Tisch ist man sich einig: Als vor einigen Jahren ein Brauereibesitzer sprach, war mehr los. Als Dr. Kunze die letzten Thesen "vor dem Ende" ankündigt, wird im Saal applaudiert.
Alt-Herren-Vorstand Dr. Christian Possienke ist angefressen: "Als Weinheimer schäme ich mich dafür. Einige Herren werden sich am Montag erklären müssen." Er meint die nachfestlichen Convente: Wer Verfehlungen begangen hat, muss dort zunächst selbst schildern, was geschehen ist. Sofern er sich erinnern kann.
Die Trinkpause auf dem Fackelzug hinunter zum Marktplatz ist kurz. Zumal einige Wachenberg-Anwohner Getränke reichen. Im Gegenzug werden die Frauen am Wegesrand "berost". Das Blumenverteilen übernehmen die Füchse.
Die kamen in früheren Jahren meist direkt vom Militärdienst in die Corps - was sich auf deren Diktion auswirkte. "Ich verteile Rosen an die Frauen aus der Zivilbevölkerung", soll damals ein Student einer Rundfunkreporterin ins Mikro diktiert haben. Heute lacht man drüber.
Vorbei an Weinheim Galerie und Reiterin erreicht der Zug den Marktplatz. Die Café-Terrassen sind proppenvoll. Das Wetter hat gehalten. Stephan Werner nimmt den Großen Zapfenstreich vor. Und dann singt der Markplatz: "Einigkeit und Recht und Freiheit."