RNZ Interview

Autor Florian Werner über Raststätten

"Man hat alle gesellschaftlichen Schichten an diesem Ort vereint, auf ganz engem Raum, für ganz kurze Zeit. Vor dem Tod, dem Finanzamt und der Raststätte ... sind wir alle gleich."

31.03.2021 UPDATE: 10.04.2021 06:00 Uhr 5 Minuten, 39 Sekunden
Ästhetik am Straßenrand: Architektur. Foto: Christian Werner

Von Jan Draeger

Einen ungewöhnlichen Ort hat Florian Werner als Schauplatz für sein neues Buch gewählt: die Autobahnraststätte Garbsen Nord in der Nähe von Hannover. Mehrere Tage hat er das Treiben beobachtet, mit Menschen gesprochen, die dort arbeiten. Am Ende ist eine Liebeserklärung herausgekommen. Mit unserem Mitarbeiter Jan Draeger sprach Florian Werner über einen Ort, an dem – von der Bundeskanzlerin bis zum Trucker aus Litauen – alle gleich sind. Und darüber, warum sich Menschen auf Rastplätzen besonders ungezwungen benehmen – und wie gerade hier eine Liebesbeziehung entstehen kann.

Florian Werner. Foto: Christian Werner

Normalerweise halten sich Menschen nicht lange auf Raststätten auf. Sie tanken, gehen auf die Toilette, essen vielleicht noch was. Sie aber sind geblieben – wie lange?

Ich war im Sommer 2019 insgesamt fünf Tage dort.

… und auch fünf Nächte?

Ja. Damit habe ich mich sofort verdächtig gemacht, als ich eingecheckt habe. Denn die meisten fahren nach zwölf bis 15 Minuten weiter – das ist die durchschnittliche Verweildauer auf einer Raststätte. Und wenn schon jemand dort übernachtet, dann bestimmt nicht für mehr als eine Nacht. Für die Leute, die auf der Raststätte arbeiten, war schnell klar, dass ich entweder Böses im Schilde führe oder Schriftsteller sein muss.

Sind Sie aufgeflogen?

Ich habe mich dann dem Pächter der Raststätte und dem Leiter der örtlichen Polizeiwache zu erkennen gegeben.

Es ist ja eine Liebeserklärung, heißt es im Untertitel Ihres Buches. Was, bitte, ist an einer Raststätte liebenswert?

Es ist ein spannender, farbiger und vor allem wahnsinnig demokratischer Ort. Gerade die Raststätte Garbsen Nord, an der ich war. Eine Mitarbeiterin hat mir erzählt, dass Angela Merkel schon dort war und auch Sigmar Gabriel oft hält, um eine Gulaschsuppe zu essen. Dann sind da die Lkw-Fahrer aus Polen, der Ukraine und Litauen, aber auch die Familienväter und -mütter mit ihren quengelnden Kindern, die fragen: "Wie lange noch? Sind wir bald da?" Man hat alle gesellschaftlichen Schichten an diesem Ort vereint, auf ganz engem Raum, für ganz kurze Zeit. Vor der Raststätte sind wir alle gleich. Vor dem Tod, dem Finanzamt und der Raststätte.

Hintergrund

BIOGRAFIE

Name: Florian Werner

Geboren am 6. Nov.1971 in Berlin

Werdegang: Werner studiert von 1994 bis 2000 in Tübingen, Berlin und Aberdeen Anglistik, Amerikanistik und Germanistik. 2007 schreibt er seine Doktorarbeit über Rap und

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BIOGRAFIE

Name: Florian Werner

Geboren am 6. Nov.1971 in Berlin

Werdegang: Werner studiert von 1994 bis 2000 in Tübingen, Berlin und Aberdeen Anglistik, Amerikanistik und Germanistik. 2007 schreibt er seine Doktorarbeit über Rap und Apokalypse. Mehrere Bücher erscheinen in den folgenden Jahren wie "Die Kuh. Leben, Werk und Wirkung", "Schnecken. Ein Portrait.", "Zur Welt kommen. Elternschaft als philosophisches Abenteuer".

Aktuell: "Die Raststätte. Eine Liebeserklärung", mit Fotografien von Christian Werner (Hanser, 192 Seiten, 22 Euro).

Musik: Mit den Schriftstellern Michael Ebmeyer, Tilman Rammstedt und dem Songschreiber Bruno Franceschini spielt Werner in der Gruppe "Fön". Auf seiner Web-Seite florianwerner.net findet sich auch ein Video mit Werners Hymne auf die Raststätte.

Preise: Florian Werners Buch "Die Kuh" wird 2009 als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet. 2011 bekommt er den brandenburgischen Literaturpreis Umwelt.

Privat: Florian Werner lebt mit seiner Frau, der Philosophin und Autorin Svenja Flaßpöhler, in Berlin. Sie haben zwei Kinder.

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Haben Sie etwa auch Glück empfunden?

Ich hatte tatsächlich ein paar überraschende Naturerlebnisse, die mich mit Glück erfüllt haben. Ich bin einmal fünf Stunden lang mit einem Botaniker die Raststätte abgegangen. Wir haben in dieser Zeit 260 verschiedene wildlebende Pflanzenarten identifiziert. Wir sind auch auf dem Lärmschutzwall zwischen Autobahn und Rastplatz entlang balanciert. Links schauten wir auf einen Baggersee, rechts auf ein Lastwagenmeer. Ein merkwürdiger, erhabener Moment.

Es gibt rund 450 Raststätten in Deutschland, warum haben Sie sich nur eine für Ihre Recherchen ausgesucht?

Ich wollte eine Raststätte finden, die repräsentativ stehen kann für alle anderen. Bei Garbsen Nord kreuzen sich die A7 und die A2, die Nord-Süd-Achse und die Ost-West-Achse. Außerdem ist Garbsen Nord ein wunderschöner Name. Er hat so eine lautmalerische Qualität, er könnte aus einem Gedicht von Ernst Jandl stammen. Freunde haben mir von einem Ritual erzählt: Der erste im Auto, der das Schild Garbsen Nord sieht, muss laut rufen: Was gabs’n in Garbsen? Dann müssen alle anderen rufen: Erbsen! Es ist ein Ort, der zum Dichten anregt.

Was haben Sie in den Nächten auf der Raststätte geträumt?

Keine Ahnung, leider. Ich habe überraschend tief geschlafen. Das Fenster von meinem Zimmer ging dankenswerter Weise nach hinten raus. Ich hatte einen Blick auf einen Essigbaum und konnte ein Amselmännchen, das zwitschernd auf Brautschau war, beobachten.

Und die Autobahn hat nicht gestört?

Das war eher wie ein fernes Meeresrauschen. Ich wohne in Berlin an einer der großen Magistralen, der Prenzlauer Allee, deshalb bin ich so ein Grundrauschen gewohnt. Der Pächter der Raststätte sagte übrigens, er liebt dieses Geräusch. Er sieht das natürlich auch ökonomisch: Wenn der Verkehr fließt, weiß er, die Leute kommen zu seiner Raststätte.

Träumt so ein Raststätten-Pächter von einem schönen Restaurant in der Stadt oder auf dem Land?

Zumindest hat dieser sich für Garbsen Nord entschieden. Schon seine Großeltern und Eltern waren Raststätten-Pächter. Er ist in Garbsen Nord aufgewachsen, wollte eigentlich einen ganz anderen Weg einschlagen und hat Werbedesign studiert. Dann ist er doch wieder in diese Dynastie reingerutscht. Mich hat das erstaunt. Den Gedanken, dass der Sohn den Betrieb vom Vater und Opa übernimmt, kennt man eher bei einem Gasthof, einer Mühle oder einer Fleischerei. Ausgerechnet auf der Raststätte lebt dieser Gedanke anscheinend auch fort.

Ästhetik am Straßenrand: Freikörperkultur. Foto: Christian Werner

Ich habe noch keinen Menschen getroffen, der vom Essen in Raststätten geschwärmt hat. Wie hat es Ihnen geschmeckt?

Ich bin Vegetarier, deshalb habe ich um die Bockwurst-Heißhaltekübel, die an der Kasse stehen, einen weiten Bogen gemacht. Auch von den Schnitzeln habe ich mich fern gehalten. Wenn man sich auf das Salat-Buffet und Schokoriegel konzentriert, hat man gute Überlebenschancen.

Für das Buch haben Sie auch mit einer ehemaligen Angestellten der Mitropa gesprochen, die in der DDR für die Raststätten zuständig war …

Sie hat in den Achtzigern drei Jahre lang auf dem Rasthof Börde bei Magdeburg gearbeitet. Sie erzählte, dass das Essen dort wie in einem feinen Restaurant immer von der linken Seite aufgelegt wurde. Die Gerichte wurden sogar am Tisch flambiert, der Fisch vor den Augen der Gäste zerteilt. Klang für mich eher nach einem Sterne-Restaurant.

Also können die bundesdeutschen Raststätten noch etwas vom Service in der DDR lernen?

Ausgerechnet das Raststätten-Wesen scheint in der DDR sehr fortschrittlich gewesen zu sein. Lustigerweise war zu dieser Zeit die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen im Westen ein staatlicher Betrieb, die Mitropa dagegen eine Aktiengesellschaft. Umgekehrte Verhältnisse.

Sie haben ja auch einen Blick ins Gästebuch von Garbsen Nord geworfen. Alfred Biolek schwärmte dort von den Desserts. Haben Sie die probiert?

Die Süßquark-Speisen waren lecker. Den Pudding, von dem Biolek so angetan war, gibt es leider nicht mehr. Aber Alfredissimo, der alte Gourmet, kam in Garbsen Nord anscheinend voll auf seine Kosten.

Holländer sollen die beliebtesten Gäste auf dem Rasthof sein. Was haben die den Deutschen voraus?

Die Holländer haben tatsächlich einen Super-Ruf beim Personal. Sie seien immer freundlich, würden sich nie beschweren und – was besonders wichtig ist – auch gut konsumieren. Ein Pfandflaschensammler, den ich getroffen habe, schwärmte auch von ihrer Reinlichkeit: Angeblich verpacken sie ihr Pfandglas gern in Tüten, die sie dann entweder in den Container werfen oder ihm direkt schenken.

Ästhetik am Straßenrand: Architektur. Foto: Christian Werner

Im Sommer sind ja Männer mit nacktem Oberkörper keine Seltenheit auf Raststätten. Haben Sie eine Erklärung für diese Ungezwungenheit im öffentlichen Raum?

Die Raststätte ist ein Ort, der zwischen Privatsphäre und öffentlichem Raum oszilliert. An einem Flughafen oder Bahnhof würde niemand auf die Idee kommen, das Hemd auszuziehen. Aber an der Raststätte kommt man mit seinem privaten Fahrzeug an und fühlt sich darin wie zu Hause. Wenn man aussteigt, ist man quasi mit der einen Pobacke auf dem Sitz noch in der Privatsphäre, mit der anderen schon im öffentlichen Raum. Ich glaube, die Leute tragen beim Aussteigen das Private mit nach draußen. Deshalb ziehen sie das T-Shirt aus, machen Gymnastik oder Hampelmänner. Als wären sie im heimischen Wohnzimmer.

Ästhetik am Straßenrand: Genuss an deutschen Raststätten. Foto: Christian Werner

Toiletten auf Raststätten sind ja nicht billig. Mancher Besucher nutzt lieber die Natur, um sich zu erleichtern  …

Wahrscheinlich hat er einerseits keine Lust, sich in die Schlange vor den Toiletten zu stellen, andererseits hat er vielleicht noch so alte protestantische Tugenden wie Sparsamkeit verinnerlicht. Die 70 Cent kann man ja auch anders anlegen. Vermutlich kennt jeder dieses typische Harnaroma, das sich mit dem Diesel- und Pommes-Duft auf der Raststätte vermischt. Aber diese irren Stickstoffdüngungen führen auch dazu, dass an solchen Stellen Pflanzen gedeihen, die anderswo längst ausgestorben sind.

Für einen Trucker ist die Raststätte so etwas wie eine zweite Heimat. Wie sind Ihnen diese Menschen begegnet?

Ich habe mich mit einem sehr freundlichen, breitschultrigen Trucker aus dem Bergischen Land unterhalten. Er kann sich keinen schöneren Beruf vorstellen. Als fest angestelltem deutschem Lkw-Fahrer geht es ihm aber vergleichsweise gut. Er ist jedes Wochenende zu Hause, ist versichert und verdient genug, um abends die Dusche auf dem Rasthof zu nutzen. Das Gros der Lkw-Fahrer stammt allerdings aus Osteuropa und die fahren teilweise unter unglaublich widrigen Bedingungen. Ein junger litauischer Fahrer hat mir erzählt, dass er seine Familie nur alle zwei Monate sieht. Unterwegs schläft er auf den vier Quadratmetern in seiner Kabine und wird auch nicht besonders gut bezahlt. Solche Menschen können sich niemals abends auf dem Rasthof ein Schnitzel oder ein Bier leisten.

Auch Liebesbeziehungen können entstehen. Dabei hält man sich doch auf dem Rasthof nicht lange auf …

Einmal war ein Kunde von dem Lächeln einer Mitarbeiterin, die ihm gerade das Geld fürs Tanken abnahm, so angetan, dass er danach einen Brief an die Betriebsleitung schrieb, weil er ihren Namen wissen wollte. Der Brief wurde an die Frau weitergegeben, und es entwickelte sich tatsächlich etwas Dauerhaftes daraus. Die beiden haben geheiratet und ein Kind bekommen.