Die 50er Jahre

Das Jahrzehnt der Widersprüche

Rock’n’Roll und Spießigkeit, Aufschwung und Verdrängung: Die 50er gelten als ambivalent. Historiker Christoph Kleßmann im Interview.

22.10.2023 UPDATE: 22.10.2023 06:00 Uhr 4 Minuten, 44 Sekunden
Bundeskanzler Konrad Adenauer 1957 im Garten seines Urlaubsdomizils in Cadenabbia am Comer See mit seiner Tochter Lisbeth. Foto: dpa​
Interview
Interview
Historiker Christoph Kleßmann (75)
... war Professor für Zeitgeschichte in Bielefeld und Potsdam

Von Michael Abschlag

Heidelberg. Christoph Kleßmann war Professor für Zeitgeschichte in Bielefeld und Potsdam. Sein Schwerpunkt ist die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte.

Herr Kleßmann, würden Sie gerne in den 1950ern leben?

Da ich in den 50ern schon gelebt habe, ist das für mich schwer zu beantworten. Damals bin ich zur Schule gegangen, erst in Bielefeld, dann in Hagen, und das habe ich nicht in besonders toller Erinnerung. Als Historiker kann ich das heute natürlich einordnen, und die 50er Jahre sind ja durchaus interessant und auch ein wenig kurios. Aber ich würde heute nicht gerne in ihnen leben.

Warum?

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Die 50er waren zwangsläufig etwas ärmlich, auch wenn ich nicht zu den Kindern gehört habe, die besonders gelitten hätten. Aber es war natürlich eine Zeit, in der alle darauf achten mussten, dass die Kasse stimmt, und vieles klappte noch nicht. Wir sind zum Teil durch Trümmergrundstücke zur Schule gegangen. Die Schule selbst war auch kein Zuckerschlecken, wir hatten viel zu große Klassen und autoritäre Lehrer, die gerne vom Krieg erzählten. Das ist ein Kapitel für sich.

Waren die 50er ein Jahrzehnt des Aufbruchs oder des Stillstands?

Es gibt da natürlich viele Schablonen im populären Gedächtnis, dazu gehört diese Vorstellung von den bleiernen Jahren. Die stockautoritäre Prägung dieser Jahre, die völlig unzureichende Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und die ökonomischen Probleme haben diese Zeit sicher geprägt. Auf der anderen Seite war es auch eine Zeit des Aufbruchs in vielen Bereichen. Gerade in der Anfangszeit gab es viele interessante literarische Erscheinungen, Bücher und auch Zeitschriften, die sich kritisch mit der Vergangenheit beschäftigt und die gehofft haben, dass die neue Zeit etwas völlig Neues hervorbringt. Zu den 50ern gehört beides: eine ungeheure Dynamik, auch in der Wirtschaft, und eine reaktionäre Stimmung, die verhindert hat, dass bestimmte Themen auf den Tisch kamen.

Kann man sagen, dass die Mehrheit der Gesellschaft von Konservatismus und Doppelmoral geprägt war?

Die Mehrheit der Gesellschaft war sicher konservativ und nicht gerade offen für Experimente. Das spiegelte sich ja auch in Bundeskanzler Konrad Adenauer, der noch aus einer ganz anderen Zeit stammte und dafür zu bürgen schien, dass es ruhig und geordnet zuging und keine Experimente gemacht wurden. "Keine Experimente" war sicher einer der genialsten Slogans, die je bei einer Bundestagswahl eingesetzt wurden.

Ein wunder Punkt war die Vergangenheit. Eine echte Aufarbeitung der NS-Zeit scheint es nicht gegeben zu haben ...

Es gab schon auch Aufarbeitung, aber nicht in dem Maße, wie man sich das heute wünschen würde angesichts der ungeheuerlichen Dimension der deutschen Verbrechen. Mit Blick auf den Holocaust, der damals noch nicht so genannt wurde, und das Vorgehen in Osteuropa hätte es natürlich eine intensive Auseinandersetzung gebraucht, und die gab es nur in Ansätzen. Natürlich war vieles bekannt, und die offizielle politische Linie bestand darin, sich von der Nazi-Zeit zu distanzieren. Aber dass die Gesellschaft nicht nur davon betroffen, sondern auch daran beteiligt gewesen war, wurde nicht wirklich intensiv diskutiert.

Gab es denn auch Bereiche des kulturellen Aufbruchs?

Die gab es durchaus, aber sie fanden vor allem in Nischen statt. Das war wie gesagt in der Literatur der Fall, aber etwa auch im Radio. Sender haben teils Dinge ausprobiert, über die man heute staunen würde.

Es war ja auch die Zeit, in der der Rock ’n’ Roll aufkam ...

Das natürlich auch. Der Rock ’n’ Roll war sicher eine Reaktion auf eine autoritäre Gesellschaft, die wenig Spielräume für jugendlichen Protest gelassen hat. Aber das änderte nichts daran, dass die Gesellschaft insgesamt konservativ geprägt war.

Eine jugendliche Protestbewegung waren die sogenannten Halbstarken. Waren das eigentlich die Vorläufer der 68er?

Nein, das würde ich so nicht sagen. Die Halbstarken und die Rock ’n’ Roll-Bewegung waren stark proletarische Bewegungen, die von den sozialen Unterschichten getragen wurden. Die 68er waren dagegen, zumindest in ihren Ursprüngen, eine akademische, studentische Bewegung, die allerdings erheblichen Einfluss auf die gesamte Gesellschaft gehabt hat.

Sie haben vorhin das Wirtschaftswunder angesprochen. Wie weit war das schon in der Bevölkerung zu spüren?

Vom Wirtschaftswunder waren fast alle betroffen, wenn auch nicht alle so, wie man das später manchmal dargestellt hat. Es gab noch sehr lange sehr viele arme Schlucker, die in den 50ern noch nicht vom Wirtschaftswunder profitiert haben. Es gab noch lange kaputte Wohnungen, und die finanzielle Situation war bei vielen nicht rosig. Trotzdem wurde die Gesellschaft insgesamt durch das Wirtschaftswunder schon sehr stark geprägt.

Wenn man sich vorstellt, was für eine Ruinenlandschaft Deutschland 1945 war und wie schnell nach der Währungsreform 1948 der wirtschaftliche und politische Aufstieg gelang, dann kann man sich vorstellen, welche Wirkung das hatte und warum viele das als Wunder empfanden. Das Wichtigste war, dass das Wirtschaftswunder eine optimistische Stimmung erzeugt hat und den Eindruck: Es geht immer weiter bergauf.

Ist es eigentlich ein Problem, dass man bei den 50ern stärker Westdeutschland im Blick hat als die DDR?

Das kommt auf die Fragestellung an. Wenn man sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigt, wird man bei der Bundesrepublik mehr interessante und charakteristische Phänomene entdecken als bei der DDR. Für die Bundesrepublik waren die 50er eine besondere Phase, mit all ihren Kuriositäten, die es in der DDR nur in Grenzen gab. Man denke an all die Schlager und Schnulzenfilme – das gab es in der DDR zwar vereinzelt auch, aber es war nicht so prägend.

Wie waren denn die 50er in der DDR?

Das ist ein interessanter Punkt, denn die DDR wird häufig über 40 Jahre hinweg als Einheit betrachtet, und das war sie natürlich nicht. In den 50ern war sie ökonomisch noch weitaus schwächer aufgestellt als in den 80ern. Damals waren noch die Folgen der sowjetischen Besatzungs- und Reparationspolitik zu spüren. Der Lebenstandart war sehr viel niedriger als im Westen. Als Hintergrund für den Aufstand vom 17. Juni 1953 war das wichtig.

War das eine Zäsur?

Die Niederschlagung des Volksaufstands war ganz sicher eine Zäsur, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen wurde die stalinistische Repression in der Folge ein stückweit zurückgefahren. Zum anderen saß in der SED der Schock tief, dass ausgerechnet die Arbeiter revoltiert haben. Deshalb ist auch ein Teil der Sozialpolitik der SED darauf zurückzuführen.

Wie sehr waren die Gesellschaften beider Seiten vom Kalten Krieg geprägt?

Beide waren sehr stark davon geprägt. Der Kalte Krieg schuf sozusagen die Rahmenbedingungen, unter der beide Gesellschaften sich entwickelt haben und mit denen die Politik umgehen musste. Das betraf beide Staaten in Ost und West, die polemischen Auseinandersetzungen, aber es betraf auch die Ängste, dass aus dem kalten ein heißer Krieg werden könnte. Ohne den Kalten Krieg ist die Nachkriegszeit nicht zu verstehen.

In den USA gab es die McCarthy-Ära mit der Bekämpfung linker Intellektueller. Wie stark waren denn die westlichen Gesellschaft durch die Furcht vor dem Kommunismus geprägt?

Die MyCarthy-Ära war ein überideologisiertes Phänomen der Furcht vor kommunistischer Überwältigung. Ganz so extrem wie in den USA war es in der Bundesrepublik oder generell in Westeuropa nicht. Aber der Antikommunismus war schon sehr stark, und er funktionierte auch als Integrationsideologie, die verschiedene politische Strömungen einte und Gegensätze überwand.

Werden die 50er heute verklärt? Oder werden sie dämonisiert?

Das hängt davon ab, wen Sie fragen. Jugendliche sehen sie eher als eine kuriose Zeit, Ältere betrachten sie vermutlich anders. Die meisten Historiker sind sich einig, dass es eine vielschichtige und widersprüchliche Ära war, zu der beides gehörte: Es war eine bleierne Zeit, gesellschaftlich konservativ, mit mangelhafter Aufarbeitung der NS-Zeit, aber es war auch eine Zeit des Aufbruchs, der Dynamik. Das macht sie so ambivalent.