Haim zeigen sich spritzig und verspielt
Haim verarbeiten Trennungen und Abschiede erstaunlich positiv. Außerdem reingehört haben wir auch bei James McMurtry, Little Simz, U.S. Girls und King Gizzard & the Lizard Wizard.

Von Steffen Rüth
Es ist schon witzig mit "I Quit", dem vierten Album der Haim-Schwestern Este (39, Bass), Danielle (36, Gesang, Gitarre) und Alana (33, Gitarre, Klavier). Einerseits bereitet das Trio aus Los Angeles hier über 15 Songs ein opulentes Mahl zu, dessen Gänge aus Beziehungsversagen, männlichen Idioten, eigenen Unzulänglichkeiten und der Sehnsucht nach den guten alten Highschool-Flirts bestehen. Auf der anderen Seite hört sich das aber nicht mal halb so trübselig an, wie man vermuten könnte. Tiefen Trennungsschmerz lassen die drei, die während der Aufnahmen zum ersten Mal seit Ewigkeiten gleichzeitig Singles waren, lieber andere ausloten. Und so hört sich Liebeskummer auf "I Quit" leicht, humorvoll, verspielt und einigermaßen folgenlos an. Das Album ist das klangliche Äquivalent einer anständig eingeschenkten Rosé-Schorle und ein idealer Begleiter für die lauen Sommernächte. Wie formuliert es Danielle so schön in "Everybody’s Trying To Figure Me Out": "You think your’re gonna die/ But you’re not gonna die."
Musikalisch bewegen sich Haim, die aus kunstaffinem Hause stammen, "all over the place". Direkt über "Gone", den ersten Song, könnte man eine ganze Seite schreiben. Die Schwestern samplen ""Freedom! ‘90" von George Michael und zitieren Bruce Springsteens "Born To Run". Dazu singt Danielle, dass sie jetzt endlich tun, lassen und vögeln könne, was und wen immer sie will. Eine Rockgitarre kommt auch noch zum Vorschein, weshalb das knarzige Stück insgesamt irgendwie an die White Stripes erinnert.
"All Over Me" hat was von Shania Twain, deren Einfluss sich von Anfang an durch das Haim-Werk zieht. In "Relationships" – hier konsequent als "fuckin‘ relationships", also verdammte Beziehungen, charakterisiert – ziehen plötzlich R&B-Beats ein. Die Nummer ist lässig, animiert zu Kaltgetränk und Sportzigarette, hat leicht was von Michael Jacksons "Billie Jean" und ist der letzte Track, der noch mithilfe des Produzenten Ariel Rechtshaid entstand, Danielles Ex-Verlobtem ...
Der neue Produzent heißt Rostam Batmanglij und war früher bei Vampire Weekend. Das stilistisch-inspiratorische Potpourri noch längst nicht komplett machen Sheryl Crow ("Down To Be Wrong"), das Harmoniegesangstrio Wilson Phillips, Glamrock, Folk, Seventies-Softrock à la Fleetwood Mac, aber auch purer Pop wie von Madonna ("Spinning"). Ja, alles, was sich Haim an Finesse und Vielseitigkeit seit ihrer ersten Hitsingle "The Wire" (2012) angeeignet haben, haben sie für "I Quit" noch einmal eine Spur verfeinert.
Und so erwischt man sich beim Anhören dabei, dass man diesen Grammy-Gewinnerinnen wünscht, noch möglichst lange ungebunden zu bleiben. Bei Este ist es dafür allerdings wohl schon zu spät – sie ist wieder liiert.
Info: Das neue Album "I Quit" ist aktuell erhältlich. Konzerte in Deutschland sind derzeit nicht geplant.
Beson Boone und mehr. Hier geht es zum Sound der letzten Woche.
Sound der Woche
James McMurtry
The Black Dog And The Wandering Boy
Americana Ein Lone Star Sheriff jagt Wachteln zu Pferd und hat eine geheime zweite Familie. An anderer Stelle werden ein schwarzer Hund und ein wandernder Junge herbeihalluziniert und Weird-Al-Songs gesummt. Ja, es finden sich gewohnt schräge Storys auf dem elften Opus dieses erfindungsreichen Geschichtenerzählers. James McMurtry und Band haben zehn Titel geschaffen, die so spontan klingen, als würden sie die Songs schreiben, noch während man sie hört. Offen für Experimente bringt das Album auch zwei bemerkenswerte Covers: "Laredo", der Opioid-Blues eines Junkies, der ein Wochenende an Drogen verliert, und Kris Kristoffersons nachdenklichen "Broken Freedom Song". (gol) ●●●
Für Fans von: Todd Snider
Bester Song: South Texas Lawman
Little Simz
Lotus
Hip-Hop Es ist eine starke Wut, die dieses Album antreibt: Little Simz hat sich von ihrem Kindheitsfreund und Langzeit-Produzenten Inflo losgesagt. Ein Streit um Finanzen war vorausgegangen und all die Verletzungen, die sie davongetragen hat, lässt die britische Rapperin nun auf "Lotus" heraus. Mal zornig wie im Opener "Thief", mal abstrakter wie in "Blood", lyrisch immer auf der Höhe, musikalisch mit Jazz-, Rock- und Afrobeat-Anleihen. Langweilig wird es nie! (han) ●●
Für Fans von: FKA Twigs
Bester Song: Young
U.S. Girls
Scratch It
Garage Rock/Folk Vor wem sich diese Platte stilistisch verbeugt, wird gleich in den ersten Liedern klar: "Like James Said" zitiert James Brown, "Dear Patti" setzt sich mit Patti Smith auseinander. Tatsächlich wird "Scratch It" zur kleinen Zeitreise in die 70er und 80er, mit herrlich analogem Vintage-Sound, im weiten Spielfeld von punkigem Garage Rock, folkigen oder souligen Einschlägen. Meg Remy (die Frau hinter U.S. Girls) liefert neun Songs ab, die mit jedem Durchgang spannender werden. (sös) ●●
Für Fans von: Patti Smith
Bester Song: No Fruit
King Gizzard & the Lizard Wizard
Phantom Island
Psychedelic Rock Die sechs Australier haben einen aberwitzigen Output – 27 Studioalben in 15 Jahren sind ein Ausdruck von überschießender Kreativität. Auf "Phantom Island" polieren sie ihren Sound mit einem analogen Schuss orchestraler Eleganz auf: eine Zufallsbegegnung mit den Los Angeles Philharmonikern machte es möglich. Dabei dominieren weiterhin die Vielseitigkeit der eigenen Bläserfraktion und vor allem die aus dem Garagerock entlehnten, bluesig anmutenden Riffs und experimentell-orientalischen Einwürfe. Einziger Deutschlandtermin der laufenden Tour ist im November Berlin – aber da King Gizzard auch ständig Livealben online stellen, gibt es immerhin Abhilfe. (hol) ●●●
Für Fans von: Dodgy
Bester Song: Silent Spirit