Der große Schatz der Gemeinsamkeiten
"Von welcher Kultur lassen wir uns leiten?" - In Deutschland hat sie viele Wurzeln - Die "Leitkultur" wird nicht vom Staat verordnet

Paul Kirchhof.
Foto: Alexander Müller
Von Heribert Vogt
Heidelberg. "Wenn wir uns von keiner Kultur leiten lassen würden, wäre das bei uns die Ratlosigkeit, das Chaos." Das stellte der Heidelberger Rechtswissenschaftler Paul Kirchhof am Ende seiner Rede "Von welcher Kultur lassen wir uns leiten?" in der Neuen Universität fest. Zuvor war die Veranstaltung in Dieter Borchmeyers Reihe "Vorträge zur Kulturtheorie" wegen Überfüllung des Hörsaals 14 in den größeren Hörsaal 13 verlegt worden. Dort betonte Kirchhof angesichts der gescheiterten Jamaika-Verhandlungen in Berlin, dass in unserer Kultur der Polis die Abgeordneten gewählt sind, um eine kraftvolle Politik umzusetzen. Denn diese Politiker sind jenseits der Parteiinteressen Vertreter des ganzen deutschen Volkes mit seiner gewachsenen Kultur.
Darin findet sich "ungeheuer viel Gemeinsames". Durch alle Herausforderungen der Geschichte seit dem Dreißigjährigen Krieg waren die Deutschen in der Lage, Gemeinsamkeiten zu bilden und Probleme zu lösen. Dabei war neben dem Zentralstaat auch die Provinz wichtig - Weimar mit seinen Dichtern von Weltbedeutung, Bayreuth mit den großen Komponisten. Aber auch der Weltbürger hat Verantwortung dafür, was vor seiner Haustür passiert: "Wenn wir nicht definieren können, warum wir unser Land deutsch nennen, dann haben wir kein Staatsvolk." Und: "Es ist eine fundamentale Frage, dass wir unsere Identität in unserer Kultur sehen."
Nach Kirchhof entstehen die Staaten, weil sich ein Staatsvolk mit einer gemeinsamen Kultur der Menschen gebildet hat. Dieses Phänomen zeigt sich derzeit auch in Spanien. Bei der Verfasstheit Deutschlands wurde nach Paris geschaut, auf die Errungenschaften der Französischen Revolution, aber auch auf deren Schrecken. Bedeutende Verfassungstheoretiker aus Heidelberg spielten dabei im 19. Jahrhundert eine Rolle. Der Impuls kam aber aus der Begegnung mit anderen Ländern. Deshalb enthält unsere Kultur nicht nur Merkmale, die nur die Deutschen haben, sondern auch andere Völker.
Aber was ist ausschließlich deutsch? Typisch ist wohl die Liebe zum Wald, zudem ein Hang zur Romantik. Aber auch die einmalige friedliche Revolution von 1989, die zu verhaltenem Selbstbewusstsein berechtigt. Die deutsche Sprache ermöglicht Selbstverständigung und baut Brücken. Hinzu kommt ein Mix aus deutschen Tugenden, italienischer Küche, französischem Wein, aber auch der Idee der universalen Menschheit, dem Konzept der Menschenrechte. Und Deutschland hat Künstler von Weltrang hervorgebracht: in der Literatur Goethe, Schiller oder Martin Walser, in der Malerei Dürer, Caspar David Friedrich und den Blauen Reiter, in der Musik Komponisten wie Bach, Beethoven oder Wagner.
Kirchhof unterstrich jedoch, dass das Humane sämtlichen Menschen gemein ist; im Jahr 1949 haben alle Staaten die Menschenrechtskonvention unterschrieben. Vor diesem Hintergrund haben die Deutschen Eigenheiten, die ihnen einen Sinn geben. Dazu gehört vor allem die Sprache, mit der sie die Welt begreifen. Auch die Verantwortung für das Gemeinwohl und das Friedensprinzip schwingen mit. Dazu kommen gemeinsame Lebenssichten: etwa der Stolz auf die Wirtschaftswunder von 1950, 1989 und vielleicht auch von 2016/17. Denn diese Erfolge gelangen "auf unserem Gebiet mit unseren Menschen". Kirchhof: "Es gehört zu unserer Kultur, dass wir eine ungeheure Erneuerungsfähigkeit haben."
Bedeutsam hierzulande ist auch die Kultur des Erinnerns und Vergessens. Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg wurde das Erinnern wichtig, weil die großen Zerstörungspotenziale nicht vergessen werden sollten. Besonders galt dies nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon zur Vorbeugung müssen sich die Deutschen an das große Unrecht erinnern. Umgeben sind sie dabei von den Traditionen der Aufklärung, des Humanismus, des Christentums oder auch der sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts.
Heute ist Deutschland ein Verfassungsstaat unter anderen, allerdings mit einer einmaligen Verfassung, von der viele Länder lernten. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss stellte 1952 fest, dass Deutschland auf drei Füßen ruht: der Akropolis (dem Recht des Einzelnen), dem Kapitol (den Regeln des geschriebenen Rechts; dem römischen Recht) und Golgatha (der Religion). Und diese Wurzeln sind aus vielen Verfassungen erwachsen. Dabei bleiben Fragen offen, etwa nach der religiösen Wahrheit, um ein friedliches Zusammenleben zu sichern. Und weil Deutschland eine Hochkultur hat, muss es sich der Schuldfrage stellen. Wie der Kulturbruch des Holocaust geschehen konnte, ist jedoch nicht zu erklären.
Grundlegend für die Kultur, von der wir uns leiten lassen, sind gesicherte Grenzen, gegen äußere Aggressoren, aber auch, um Flüchtlingen Schutz zu bieten. Kirchhof zum Schluss: "Wir müssen uns auf den Weg machen, uns die Elementarbegriffe für unsere Kultur zu verdeutlichen." Die "Leitkultur" meint nicht, dass der Staat eine Kultur verordnet, sondern die Kultur ist uns gemeinsam, und gemeinsam führen wir sie fort.