"Rising" hatte an Silvester Premiere
Es war ein Feuerwerk moderner Tanztechnik.

Von Isabelle von Neumann-Cosel
Mannheim. Im Grand Pas de deux aus dem Ballett "Don Quixote" (Original-Choreografie von Marius Petipa) wird das klassische Ballett sozusagen auf seine Essenz verdichtet. Bis heute ist dieses tanztechnische Feuerwerk ein beliebter Beitrag für festliche Gala-Abende. Zum ersten Mal hat das Nationaltheater Mannheim am Silvesterabend zum Bühnentanz eingeladen, und tatsächlich stand auch der berühmte Pas de deux auf dem Programm – allerdings zeitgenössisch verhandelt von der israelischen Choreografin Anat Oz.
So erklingt zwar die bekannte Musik von Leon Minkus vom Band, aber im Geschehen auf der Bühne werden die Konventionen des klassischen Balletts höchst geistreich gegen den Strich gebürstet. Es ist eine Vierergruppe, die da agiert, erst einmal vom Boden aus; klassische Kunststückchen werden höchstens angedeutet. Wenn die Choreografie Fahrt aufnimmt, wird den Protagonisten immer mehr individueller Spielraum eingeräumt, Flirts mit dem Publikum inbegriffen.
Da kann eine Tänzerin in der Rolle der Choreografin noch so viel beschwören: "Wir machen das zusammen!" Ist die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet, gibt es kein Zurück zur Konvention. Das Mannheimer Tanz-Publikum weinte fehlenden Spitzentanz-Freuden keine Träne nach, sondern belohnte das choreografische Feuerwerk mit dem stärksten Applaus dieses Abends.
Der Ballettchef des Nationaltheaters, Stephan Thoss, hat seit Beginn seiner Amtszeit konsequent Kolleginnen und Kollegen im Choreografie-Fach eine Bühne geboten. Mehr noch: Beim international höchst renommierten Choreografie-Wettbewerb in Hannover hat er einen Produktionspreis für die Arbeit im eigenen Haus ausgelobt. Hier gibt einer etwas zurück: Mit einem 2. Preis beim Choreografie-Wettbewerb in Hannover begann die unerwartet steile Karriere des ehemaligen DDR-Bürgers Thoss. Anat Oz ist die Preisträgerin des letzten Jahres – ihr Stück "The Introversion Coda" hat sie bei der Arbeit mit dem Mannheimer Ensemble wirkungsvoll vom Pas de deux zum Quartett erweitert.
Auch interessant
Preisträger des Jahres 2020 ist Roberto Tedesco, ebenfalls mit einen Pas de deux, der allerdings ausschließlich in einer kompromisslos modernen Bewegungssprache arbeitet. "Line-up" buchstabiert per Break Dance sensibel und phantasievoll die Phasen von möglicher Gemeinsamkeit und nötiger Individualität durch – mit glücklichem Ausgang. Noch eine weitere Arbeit hat einen Bezug zum Choreografie-Wettbewerb Hannover.
Sofia Nappi, Gewinnerin des letzten Jahres, erarbeitete mit dem Ensemble den witzigen Rausschmeißer des Abends. "Holelah" ist das hebräische Wort für Tollheit, und so durften die elf Tänzerinnen und Tänzer in formlosem Anstaltsweiß so richtig schön durchdrehen. Unterstützt von diversen musikalischen Gassenhauern (von "Bella Chiao" bis zu Vivaldis "Vier Jahreszeiten") balanciert die Choreografie genüsslich auf dem schmalen Grat zwischen vermeintlicher Normalität und kollektiv aufgeladenem Verrücktsein. Aber was heißt das schon? Archaische Magie, fremdartige Rituale und individuelle Ausbrüche beschwören hier nachdrücklich die Ursprünge von Kreativität.
Mit von der Partie an diesem im wahrsten Sinn des Wortes zukunftsweisenden Abend waren auch zwei Mannheimer Ensemblemitglieder. Die langjährige Tänzerin Emma Kate Tilson ist schon mehrfach mit experimentellen Tanzfilmen aufgefallen – für ihr Solo "Layered, in figments" schafft sie unter raffiniertem Licht (unterstützt von Wolfgang Schüle, dem Lichtdesigner des Abends) mit Spiegeleffekten und traumverlorenen Bewegungen einen visuellen Raum von hohem Trancepotenzial.
Weniger sanft geht es offenbar im Inneren von Ensemblekollegen Luis Tena Torres zu. Er borgte sich für sein "Trio demons" nicht nur die Musik und den Titel, sondern auch ein Thema von einem Song der Sängerin Kim Petras – einer der Galionsfiguren der Transidentität. Die Dämonen, von denen sie singt, existieren nur in "spririt form", nehmen aber dennoch von ihr ganz real Besitz. Innere Spannung gegen äußeren Druck lotet Torres selbst mit zwei Ensemblekolleginnen unter effektvollem Spotlight glaubhaft aus.
Und dann war da noch die Clubszene 2050, gestaltet von Michael Osterath. Der ehemalige Tänzer und Leiter der Abteilung für Masken und Make-up bei der Dresden Frankfurt Dance Company wagt in "FSK2" den Blick in die Zukunft, in der alles anders ist. So tragen die Tänzerinnen und Tänzer eine Art reversiver Masken, die genau den Part der oberen Wangen bedecken, den Gesichtsmasken und Brillen frei lassen. Eine nur auf den ersten Blick lässige Sportlerkluft in diversen Rottönen, höchst eigenwillige elektronische Klänge der Tibet-Schweizerin Aisha Devi und ein anti-konventioneller Tanzstil, den er selbst als Punkdance bezeichnet, sind die Zutaten für ein fünfköpfiges futuristisches Spektakel.
So viele aufgehende Sterne am Himmel für Choreografinnen und Choreografen – eine bessere Botschaft für 2022 kann es für Tanzfans nicht geben.