Mitten im Leben
In der Kunsthalle ist das Kunstprojekt "Urban Nature" von Rimini Protokoll zu erleben.

Von Susann Behnke-Pfuhl
Mannheim. Aktueller kann ein Kunstprojekt kaum sein: Erst diese Woche wurde die Nachricht verbreitet, dass die Erde zur Zeit 7,9 Milliarden Menschen zählt, davon sollen weit mehr als die Hälfte in den Städten wohnen. Wie also wollen wir in unseren Stadtgesellschaften leben?, fragt das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll, das vor 13 Jahren im Heidelberger Kunstverein ausstellte und 2005 das Wallenstein-Projekt in Mannheim inszenierte.
Die performative, installative, situationsherstellende Arbeit der Gruppe von Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel und Dominic Huber, dem Szenographen, besteht aus sieben Stationen, die auf einem ersten Installationsevent in Barcelona basieren. Ein riesiges städtisches Labyrinth, das in Zusammenarbeit mit dem Nationaltheater Mannheim entstand. In dieses Environment taucht der Besucher gruppenweise ein und erlebt quasi rollengebunden mit, wie es ist, als Anlageberaterin, als Obdachlose, als Justizvollzugsbeamter oder als Marihuanabäuerin zu leben. Oder zumindest kommt er dem Leben der anderen sehr nah.
Die Stärke der Installation des mit zahlreichen Preisen bedachten Künstlerkollektivs, das seit 2002 besteht, ist es, dokumentarisch die verschiedenen Lebensentwürfe in suggestiv wirkenden Erzähltexten auf die Besucher einwirken zu lassen. Gleich zu Anfang werden eine Menge persönlicher Fragen gestellt, etwa diese: Wie oft laufen Sie in Gruppen wie dieser durch die Stadt? Wie viele Leute in Ihrer Stadt kennen Sie beim Namen? Aber auch: Wenn die Stadt ein Dschungel wäre, welches Tier wären Sie? Das stimmt neugierig, man ist also vorbereitet. Der erste Raum: ein kleiner Park mit öffentlichem Brunnen, ein netter Freiraum, den viele in realiter oft gar nicht betreten. Über Lautsprecher erfährt die Gruppe, was der Traum vieler Menschen ist – auf dem Land, aber in der Nähe einer Stadt zu leben. Die "suburbs" aber verbrauchen viel mehr Energie, Strom und Sprit als die Stadtbewohner.
Der Umwelthistoriker Enric Tello, der einem hier - virtuell – begegnet, propagiert dagegen ein Leben in der Stadtgemeinschaft und das heißt für ihn Teilen – die Verantwortung, die Energie, das Auto, die Kinder(erziehung), einfach alles. Er spricht von "vielen Organen im Körper einer Stadt" und erinnert damit an Richard Sennett, den großen Stadtphilosophen. Interessante Gedanken, die im nächsten Raum fortgeführt werden, wenn es um die "Gig-Economy" geht, um die Möglichkeit über Mobiltelefone jederzeit an jedem Ort alles zu bestellen und über Kurierdienste bis in die letzten Winkel der Stadt zu liefern. Beispiele: etwa Lieferando oder Gorillas.
Auch interessant
An einer Bar sitzend, nehmen wir an einem Meeting des Anwalts Miguel teil, der nun mit seinen Teilnehmern die Vorteile solcher "Tech-Unternehmen" auslotet, die angeblich Migranten als Kuriere einen guten Einstieg in die Arbeitswelt ermöglichen sollen. Mit dem Flugticket, das einem in die Hand gedrückt wird, begibt man sich nun auf große Reise, denkt man. Stattdessen handelt es sich um den verzweifelten Traum einer jungen Obdachlosen, die mit zwölf Jahren aus Marokko flüchtete, den man da in der Hand hält. Trostlos die Notunterkunft, in der man auf einem Doppelstockbett liegend, das Parfüm der anderen riecht. Beschämend die Tipps, wie man auf einer Parkbank zu schlafen hat, in steter Lauer eines Angriffs. Sahim ist so jung schon ganz am Ende: "Scheiße, ich würde nicht so leben, wenn ich Glück hätte". Aber sie will Flugbegleiterin werden, dann verspürt sie ein Kribbeln. Wie gesagt, die Stärke der Installation ist es, das alles relativ dokumentarisch und damit aushaltbar zu vermitteln.
Auch die Realität einer Anlageberaterin, die Macht und Geld besitzt und in ihrem Büro gerne von oben auf die Stadt blickt, wird gezeigt. Ebenso ein Gefängnis – eine Stadt in der Stadt – , in dem ein Mikrokosmos für die Insassen entsteht, in den man "gar nicht so einfach kommt", wie der Gefängniswärter Christian sagt. Auch die Marihuanabäuerin Camila kann man in ihrem Domizil erleben, wenn sie sich und ihren fünfjährigen Sohn so durchbringt statt einem schlechter bezahlten, aber anständigen Job nachzugehen.
Acht Minuten befindet sich der Besucher jeweils in einer anderen Welt, eine andere Perspektive einnehmend. Zum Schluss sitzt man auf Barhockern, schaut auf die gebaute Modellstadt, die irgendwo schon real, aber auch in der Zukunft liegt, die Stimmen der Menschen im Ohr, wie sie ihre Einstellungen und Glaubenssätze flüstern – und man hat tatsächlich erlebt, dass eine Stadt aus unterschiedlichen Lebensentwürfen und Zielen von Menschen besteht.
Info: "Urban Nature", Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 4, bis 16. Oktober. Geöffnet dienstags, donnerstags bis sonntags und an den Feiertagen von 10 bis 18 Uhr, mittwochs 10 bis 20 Uhr. Wegen der achtminütigen Einlassfenster in die Ausstellung wird ein Zeitfensterticket empfohlen: www.kuma.art



