Literaturnobelpreisträgerin Alexijewitsch im Gespräch mit Marina Weisband
Die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch gastierte auf Einladung des Heidelberger DAI in der Alten Aula

Sie greift nicht mehr nach den Sternen: Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch (rechts) verwies beim Gespräch mit Marina Weisband auf den "schrecklichen Nationalismus" in Russland. Foto: Philipp Rothe
Von Heribert Vogt
"Uns stehen schwere Zeiten ins Haus" - so lautete das Fazit der weißrussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch über die Situation in Russland und Osteuropa. Im Gespräch mit Marina Weißband, frühere Geschäftsführerin der Piratenpartei in Deutschland und wie Alexijewitsch gebürtige Ukrainerin, zeigte die vielfach preisgekrönte Schriftstellerin (Jahrgang 1948) in der überfüllten Alten Aula Heidelberg deutliche Züge der Desillusionierung, wenn nicht sogar der Resignation. Und das war in jungen Jahren noch ganz anders gewesen: "In den sowjetischen Zei-ten wollten wir als Mädchen Fliegerinnen oder Kosmonautinnen werden."
Jetzt zählt vor allem das Geld
Bei der Veranstaltung des DAI Heidelberg entspann sich ein munterer, in russischer Sprache geführter Austausch zwischen der jungen engagierten Politikerin und der lebenserfahrenen Autorin, an dem auch die Übersetzerin Gabriele Nötzold großen Anteil hatte. Weißband bezeichnete Alexijewitsch eingangs als literarische "Weberin", die in ihren Büchern Stimmen und Wahrheit aus subjektiven Eindrücken verwebt. Als Einstieg wählte sie am Internationalen Frauentags die Frage nach dem Feminismus im heutigen postsowjetischen Raum.
Alexijewitsch verwies darauf, dass auch Millionen sowjetischer Frauen in den Zweiten Weltkrieg gezogen oder im Untergrund gekämpft hatten. Die Bolschewiken siegten nicht zuletzt deshalb, weil sie den Frauen die Freiheit ließen. Diese konnten alle Berufe ergreifen, was von den Männern respektiert wurde. Auch dass viele Frauen in Stalins Lager kamen, zeigt eine Art Gleichberechtigung. Heute dagegen ist die Emanzipation auf dem Rückzug. Im wilden Kapitalismus sind auch Frauen Oligarchinnen, oder Businesswomen: "Bei uns zählt jetzt vor allem das Geld. Heute wollen die jungen Mädchen einfach einen reichen Mann heiraten. Das hat mit unserer Desillusionierung zu tun. Wir sind nicht daran gewöhnt, frei zu leben." Jedoch habe der Zusammenbruch des Sowjetimperiums dazu beigetragen, dass die Frauen lebendiger wurden.
In Bezug auf ihre Interviews mit Letzteren verwies die gelernte Journalistin Alexijewitsch auf ihre dörfliche Herkunft. In den slawischen Dörfern gebe es keine Distanz zwischen den Bewohnern: "Ich spreche die Menschen nicht als Interviewerin an, sondern als Freundin." Dabei interessiert sich die Autorin weniger für die Informationen als für das "Geheimnis des Lebens". Um Neues zu erfahren, müsse man neuartig fragen.
So will sie sich vor allem durch Verstehen langsam der Realität nähern. Sie sei ja nicht Putin, könne aber frühzeitig die Gedanken formulieren, die dann das Bewusstsein bestimmen. Nicht nur der Diktator Josef Stalin oder der Geheimdienstchef Lawrenti Beria repräsentierten in der Geschichte das Böse, denn gleichzeitig waren auch die Nachbarn und die Eltern Beteiligte oder Mittäter. Auch die heutigen Kinder können ihre Eltern später einmal fragen, warum sie gegen böse und schlimme Entwicklungen nichts unternommen haben. In allen Menschen gibt es demnach auch eine böse Seite.
Für Alexijewitsch muss daher die Literatur die Menschen gegen das Böse wappnen. Denn sie haben heute viel mehr Angst vor der Zukunft als früher. Noch vor zehn Jahren konnte man sich den heutigen Terrorismus - etwa der Islamisten - nicht vorstellen. Trotzdem sollte man nicht aufgeben. So hat es den Kampf mit der Obrigkeit in Russland schon immer gegeben, schon bei Puschkin. Die Autorin wies darauf hin, dass der weißrussische Präsident Lukaschenko nach ihrer Nobelpreisehrung 2015 gesagt habe, sie verleugne das weißrussische Volk - eine verschmerzbare Kritik. Schwieriger werde es schon bei der Tatsache, dass 96 Prozent der Bevölkerung Putin und Lukaschenko unterstützen, also quasi "das eigene Volk gegen mich ist".
Für "uns Unterstützer der Perestroika" war es sehr überraschend, als Putin seine Maske ablegte. In den 1990er Jahren waren die Reformwilligen Romantiker: "Wir dachten, wir sind jetzt frei. Woher konnten wir eigentlich diese Gewissheit nehmen? Auch wir postsowjetische Menschen leben unter Henkern und Opfern." Erst jetzt wird gefragt, warum das Volk seinerzeit geschwiegen hat. Und nun hat Alexijewitsch bei Reisen durch Russland alles gehört, was man sich an Hass gegenüber den Demokraten nur vorstellen kann. Denn Gorbatschows Revolution wurde vor allem in den Großstädten durchgeführt.
Während die Perestroika-Befürworter die Freiheit anstrebten, wollte das Volk ein gutes Leben. Und Alexander Solschenizyns Bücher waren nun Ladenhüter. Die Perestroika wurde in der Öffentlichkeit nicht von Gesprächen begleitet. Orientieren konnten sich zuerst die Nomenklatur und dann auch Banditen, welche die Situation für sich ausnutzten. Dann sprach Putin von der Erniedrigung der Menschen und der Notwendigkeit eines wieder großen Russlands. Und das Volk begann zu sprechen.
Nach Alexijewitsch wird Putin heute manchmal dämonisiert, er sei jedoch ein "mittelmäßiger Mensch". Allerdings habe es eine Kollektivierung Putins gegeben. In dem Buch "Secondhand-Zeit" (2013) beschreibt die Autorin, wie Banditen nach der Perestroika das Volk ausraubten. Sie möchte erklären, was sich in Russland zusammenbraut: "Dieser russische Nationalismus ist schrecklich, er führt zum Faschismus."
Sowohl bei der Perestroika in Russland als auch beim Maidan in der Ukraine haben die jeweiligen Anhänger Niederlagen erlitten. Deshalb fällt es Alexijewitsch immer schwerer, noch an den Menschen zu glauben: "Ich halte alles nur aus, weil ich die Menschen liebe." Sehr viel Hoffnung habe sie nicht mehr, weil mächtige und reiche Menschen ihre Position nicht so leicht wieder aufgeben - und auch die Opposition nichts entgegenzusetzen hat: "Imperien verschwinden nicht so schnell, und für eine neue Zeit brauchen wir freie Menschen." Aber die Leute in Russland haben Angst, über Putin oder den Krieg zu sprechen.
Deshalb hofft die Autorin auf die Zeit. Über allem steht für sie die Frage: "Warum wird unser Leiden nicht zur Freiheit?" Daran haben für sie die Politiker schuld, aber auch die Gesellschaft: "Wir haben keine Erfahrung mit Demokratie und Freiheit. Sie zu erlangen, bedeutet für uns einen sehr langen Weg."
Ein Solschenizyn-Denkmal in Wladiwostok wurde immerfort unflätig beschmiert. Und Gorbatschow kann heute nicht vor dem Volk sprechen, weil er als Verräter gilt und mit Eiern beworfen würde, gerade auch von jungen Leuten. Alexijewitsch zufolge hat das Böse in der Welt zugenommen, sodass wir "viel Mut brauchen". Etwa ein junger Franzose sagte ihr, er habe Angst, in die Metro, ins Flugzeug zu steigen. Und das hiesige Flüchtlingsthema ist auch in Russland überall im Gespräch: Dort steht Europa offenbar kurz vor dem Untergang, nur in daheim ist alles so ruhig.
Nach Ansicht der Autorin werden die Flüchtlinge durch die Erderwärmung jedoch weltweit noch viel zahlreicher werden. Und für den Einzelnen gebe es nur einen Ausweg: "Werde zum Menschen!"