Intendant Holger Schultze im Interview

"Gesundheit und Solidarität haben gerade Vorrang"

Gespräch mit dem Heidelberger Intendanten Holger Schultze über die Auswirkungen der Corona-Krise auf Theater und Orchester

27.03.2020 UPDATE: 29.03.2020 06:00 Uhr 6 Minuten, 26 Sekunden
Derzeit muss er den Zuschauern notgedrungen den Zutritt verwehren: Holger Schultze, der Intendant des Theaters und Orchesters der Stadt Heidelberg. Seit der Spielzeit 2011/12 leitet der 1961 in Berlin geborene Regisseur das Haus. Foto: Philipp Rothe

Von Volker Oesterreich

Heidelberg. Jetzt in der Krise ist die Kultur nötiger denn je. Sie schafft Zusammenhalt, obwohl wir aus Gründen der Ansteckungsgefahr Abstand voneinander halten müssen. Sie zeigt uns Perspektiven auf, beflügelt unser Gemüt und ist ein Katalysator neuer Ideen – in jeder Hinsicht und für jeden Lebensbereich. Umso schmerzlicher ist die Vollbremsung, die wir gerade erleben müssen. Theater, Kinos und Museen sind genauso geschlossen wie Galerien, Buchhandlungen, Bibliotheken Literaturhäuser oder Clubs. Der immense Wert der Unterhaltung und der geistigen Nahrung war einem vielleicht nie so bewusst wie in diesen Tagen. Wir fragten den Heidelberger Intendanten Holger Schultze nach seiner Sicht auf die weitere Entwicklung. Geführt wurde das Interview per E-Mail.

Herr Schultze, auch das Heidelberger Theater ist inzwischen ein Geisterhaus. Welche Gefühle beschleichen Sie, wenn Sie die Spielstätte trotzdem betreten?

Es macht mich natürlich extrem traurig, dass alles zum Stillstand kommt. Theater lebt von den Künstlerinnen und Künstlern und vom Publikum und davon, dass man sich gemeinsam in einem Raum befindet. Alle arbeiten dafür, dass diese Begegnung zustande kommt. Es ist einfach bitter, wenn genau das nicht mehr stattfinden kann. Man merkt, wie sinnentleert ein Theater ist, in dem temporär keine Kunst mehr stattfinden darf, so notwendig das gerade auch ist. Deswegen sind jetzt aber auch alle kreativen Köpfe bei uns gefragter denn je: Was können wir für neue Formate des Miteinanders und Füreinanders erfinden, um weiterhin mit dem Publikum in Kontakt zu bleiben und für die Zuschauer da zu sein?

Wird das Heidelberger Theater auch per Video aufgezeichnete Produktionen nach und nach online zur Verfügung stellen?

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Auf jeden Fall. Am vergangenen Mittwoch haben wir Iván Pérez "Becoming" auf unserem YouTube-Kanal für 24 Stunden zur Verfügung gestellt und weitere Inszenierungen werden folgen. "Becoming" passte inhaltlich beinahe schon erschreckend gut zur aktuellen Situation: Es ist eine Auseinandersetzung mit der Sensibilität und Kraft einer Gemeinschaft, die in einem faszinierenden Wechselspiel unserer Tänzer zusammenkommt. Wir wollen unseren Zuschauern auch während unserer Schließung Events bieten, wenn auch nur in Form von Video-Streams. Es ist uns wichtig, nicht stillzustehen, sondern zu zeigen, dass wir immer noch für unser Publikum da sind und die Zuschauer nicht auf uns verzichten müssen. Wir arbeiten auch mit dem Theaterportal nachtkritik.de zusammen, es hat einen digitalen Spielplan ins Leben gerufen. Dort werden wir unsere internationale Koproduktion "La flauta mágica / Die Zauberflöte" zeigen, mit der wir im Februar unser iberoamerikanisches Festival "¡Adelante!" eröffnet haben. Und auch wenn wir den Heidelberger Stückemarkt absagen mussten, die Lesungen finden trotzdem statt – als digitale Videokonferenzen im Netz: ein spannendes Experiment für uns, für das unsere Schauspielerinnen und Schauspieler zu Hause schon fleißig üben!

Ist es denkbar, dass Orchestermusiker einzeln ganz direkt für Ihr Publikum spielen – mal auf einem Krankenhaus-Gelände, mal auf diesem oder jenem Platz, um Anwohner aufzumuntern?

Die aktuellen Empfehlungen der Stadt Heidelberg sowie des Landes Baden-Württemberg lauten: Bleiben Sie zu Hause. Das raten wir auch unseren Künstlern und hoffen, dass sie sich so wenigen Risiken wie möglich aussetzen. Am vergangenen Sonntag gab es unter dem Motto "Flashmob sonoro!" eine deutschlandweite Aktion, bei der Hobby- und Berufsmusiker bei offenem Fenster die Europahymne spielten – vielleicht haben einige Leser in ihrer Nachbarschaft davon gehört. Das musste man unseren Musikern natürlich nicht zweimal sagen…

Sind auch andere Aktivitäten im Internet geplant?

Jede Menge! Über unsere Socialmedia-Kanäle Facebook, Instagram und Youtube schicken unsere Künstler Grüße, Videobotschaften und künstlerische Beiträge an unser Publikum. Über unsere Homepage sind auch größere Beiträge abrufbar. Unser leitender Schauspieldramaturg Jürgen Popig zum Beispiel gibt allen Abiturienten Nachhilfe und erklärt in verschiedenen Videos Theaterstücke und Texte, die abiturrelevant sind – zum Beispiel "Der goldene Topf" von E. T. A. Hoffmann. Unsere Tänzer des Dance Theatres zeigen, wie sie sich zu Hause fit halten. Oder sie tanzen kurzerhand in ihrem Wohnzimmer und lassen unsere Zuschauer daran teilhaben. Reinschauen lohnt sich in jedem Fall – unsere Künstlerinnen und Künstler entwickeln täglich neue und persönliche Ideen.

Zusammen mit der Stadtbücherei bietet das Theater seit Langem die Reihe "Lesezeit" an. Einmal pro Monat präsentieren Ensemblemitglieder Texte, die zum aktuellen Programm passen. Meist sind es Romanauszüge. Kann man solche Lesungen nicht auch anbieten?

Da die Stadtbücherei, genau wie wir, ihre Räumlichkeiten für Besucher schließen mussten, fällt leider auch unsere Lesezeit aus. Wir haben aber natürlich eine Alternative: Die Schauspieler des Jungen Theaters lesen für unsere kleinen Besucher regelmäßig ein Kapitel aus "Bambi" – auch das abrufbar über unsere Homepage. Die für April geplante Premiere musste leider ausfallen, so haben die Kleinsten aber doch noch was davon. Weitere Lesungen folgen, lassen Sie sich überraschen!

Wie haben Sie im Theater den bisherigen Verlauf der Corona-Krise wahrgenommen? Erst hieß es, Veranstaltungen bis zu 1000 Teilnehmern könnten durchgeführt werden, dann überschlugen sich die Ereignisse. Haben Sie in den letzten Tagen vor der Schließung sämtlicher Bühnen beobachtet, dass die Reihen leer blieben, weil mehr und mehr Leute zu Hause blieben?

Schulen haben kurz vor der Schließung abgesagt und auch einzelne Zuschauer, aber die meisten sind gekommen. Es war faszinierend, mit welcher Treue und Konsequenz das Publikum ins Theater kam. Aber wir haben auch gemerkt, dass die Unsicherheit wuchs. Bis heute bekommen wir sehr viel Zuspruch. Und das macht Mut.

Nach der Schließung des Hauses wurde noch weiter geprobt, um sofort wieder mit neuen Produktionen starten zu können, sobald sich die Türen wieder fürs Publikum öffnen. Wann war Ihnen klar, dass die Nähe bei den Proben einfach zu groß und zu gefährlich ist?

Als wir vor zwei Wochen mit der Produktion "Der Diener zweier Herrn" aus dem schweizerischen Winterthur zurückkamen und die gesamte Truppe nach Rücksprache mit der Stadt in freiwillige Quarantäne musste. Da war klar, dass ein "weiter so" für das ganze Haus nicht mehr möglich war. Gesundheit und Solidarität haben gerade einfach Vorrang.

Der Stückemarkt musste abgesagt werden, die Schultheatertage ebenfalls. Wie sieht es mit den Schlossfestspielen im Sommer aus?

Das ist ein bisschen die Gretchenfrage. Wie lange wird dieser Ausnahmezustand dauern? Wir können im Augenblick nur die Entwicklung der Situation beobachten und dann spätestens Ende April unsere Entscheidungen treffen. Sollten wir wirklich ab Mai wieder spielen können, werden die Schlossfestspiele stattfinden.

Trotzdem muss für die Zeit geplant werden, wenn der Spielbetrieb wieder beginnt.

Im Augenblick entwerfen wir unterschiedliche Szenarien wie es ab Mai oder ab Juni im Theater weitergehen könnte. Ich gehe davon aus, dass wir einzelne Produktionen in die nächste Spielzeit verschieben werden. Sobald das Theater wieder öffnet, werden wir unser Publikum darüber informieren.

Leere Bühne, leere Sitzreihen: Blick in den derzeit verwaisten Marguerre-Saal des Heidelberger Theaters. Foto: zg

Stückemarkt-Preise wird es trotzdem geben – dank des Mäzens Manfred Lautenschläger, der das Preisgeld auf 12.000 Euro erhöht hat, so dass die sechs nominierten deutschsprachigen Autorinnen und Autoren jeweils 2000 Euro erhalten können. Ein großartiges Zeichen für freie Künstler, die ganz besonders von der Corona-Krise betroffen sind.

Ja, ich bin Manfred Lautenschläger sehr dankbar, dass er so schnell und verständnisvoll reagiert und es uns damit ermöglicht hat, dieses wichtige politische Zeichen zu setzen. Der Wettbewerbsgedanke rückt angesichts einer solchen Krise, wie wir sie gerade erleben, in den Hintergrund zugunsten der künstlerischen Solidarität. Wir haben sehr viele positive Reaktionen auf diese Entscheidung bekommen.

Jeden Abend fehlen Einnahmen von geschätzt 10.000 Euro. Reißt das nicht ein gewaltiges Loch in Ihren Etat? Oder anders gefragt: Sind Produktionen nach der Corona-Krise gefährdet?

Die Zusammenarbeit mit der Stadtspitze und der Politik ist äußerst konstruktiv und verständnisvoll. Aber auch die Theatermitarbeiter werden Opfer bringen müssen. So haben wir mit dem Personalrat eine kurzfristige Urlaubslösung erarbeitet, um die Schließzeit sinnvoll zu nutzen und in der nächsten Saison voll durchstarten zu können. Es gab hier eine große Bereitschaft der Mitarbeiter. Mit den freien Künstlern versuchen wir, individuelle Lösungen zu finden, indem wir Produktionen verschieben und finanzielle Einbußen zum Teil ausgleichen.

Fürchten Sie, dass die Corona-Krise die Kulturszene insgesamt verändern wird?

Ich denke, diese Krise wird die Kulturszene einschneidend verändern. Wirtschaftlich wird es am schlimmsten die freien Künstlerinnen und Künstler treffen. Gerade den Freischaffenden brechen im Augenblick alle Engagements und Einnahmequellen weg. Man kann nur hoffen, dass viele die Kraft haben, danach weiter zu machen. Und ich denke auch, dass sich die Inhalte ändern werden – so wie sich unser Blick auf Gesellschaft in den letzten Wochen stark verändert hat. Positiv betrachtet, erlebe ich bei vielen Menschen Hilfsbereitschaft, Solidarität und große Empathie anderen Menschen gegenüber. Ich glaube, jeder Einzelne von uns stellt gerade fest, was wirklich wichtig im eigenen Leben ist. Und neben offensichtlichen Dingen wie Gesundheit und Klopapier ist es eben auch das kulturelle Miteinander, das vielen schmerzhaft fehlt. Absurderweise wird also genau in dem Moment, in dem Kulturinstitutionen geschlossen haben, klar, wie wichtig wir für einen großen Teil der Gesellschaft sind.

Sie sind Vorsitzender des Ausschusses für künstlerische Fragen im Deutschen Bühnenverein. Verfolgen Sie im Bühnenverein auch bundesweite Strategien?

Ein wichtiges Thema ist es, dass die Träger in dieser Zeit die Theater finanziell weiter unterstützen und Verluste ausgleichen. Besonders hart wird es die Theater im ländlichen Raum, also die Landestheater, treffen, die sich durch Gastspiele in unterschiedlichen Städten mitfinanzieren. Hier brechen die Einnahmen total weg. Andere Themen sind die Bezahlung von freien Künstlern oder die Frage nach Kurzarbeitergeld. Alle diese Themen sind im Augenblick von großer Relevanz.

Theaterautoren reagieren erfahrungsgemäß besonders schnell auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, man denke nur an die Stücke oder Filme zur Liebe im digitalen Zeitalter oder zur Not der Flüchtlinge. Was glauben Sie, wird es bald eine Flut von Theaterstücken und Romanen über die Corona-Pandemie geben?

Mit Sicherheit werden sehr viele Dramatiker darauf reagieren, was gerade passiert. Ich bin aber auch sehr sicher, dass es sehr viele unterschiedliche Blickwinkel gibt, diese Krise zu beleuchten oder zu verarbeiten: Als Autor könnte ich fragen, was die Zwangsentschleunigung mit Menschen macht, wie wir gesellschaftliche Einsamkeit überwinden können, wie wir Haltungen und Wertschätzungen gegenüber bestimmten Berufsgruppen überdenken sollten oder wie Staaten bei globalen Problemen gemeinsamer agieren könnten. Die Stücke werden so unterschiedlich sein wie die Fragen, die wir uns alle im Moment stellen.

Info: www.theaterheidelberg.de

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