Heidelberger Stückemarkt

Starker Applaus für "Fräulein Agnes" als Göttin des Kritik-Gemetzels

Das Deutsche Theater Göttingen mit Gesellschaftsdrama von Rebekka Kricheldorf im Alten Saal zu Gast

25.04.2018 UPDATE: 26.04.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 3 Sekunden

Ein Stückemarkt-Höhepunkt war sicherlich die scharfe Kulturkritikerin Agnes (links: Rebecca Klingenberg). Schön schräg agierte der begehrte Womanizer Sascha (Christoph Türkay), der sich vor den ihm entgegengestrecken Frauenbeinen kaum retten kann. Foto: Georges Pauly

Von Heribert Vogt

Heidelberg. Privat eine mitfühlende Mutter Teresa, beruflich ein messerscharfer Marcel Reich-Ranicki - diesen Eindruck macht zunächst die Kulturkritikerin Agnes, Titelfigur in Rebekka Kricheldorfs Gesellschaftsdrama "Fräulein Agnes", mit dem das Deutsche Theater Göttingen beim Heidelberger Stückemarkt im Alten Saal zu Gast war. Einerseits versammelt die Bloggerin in ihrer feudalen Altbauwohnung großzügig auch weniger alltagstaugliche Zeitgenossen, andererseits ist sie diese Art von Dauer-Sommergästen gleich zu Beginn satt - aber nicht nur die, sondern gleich die ganze Menschheit.

Kricheldorfs so sprachmächtiges wie lifestylig-komödiantisches Salonstück führt in das Herz der Gesellschaft, das alltägliche Miteinander der Menschen heute. Offenbar trifft Erich Sidlers Göttinger Inszenierung den Nerv der Zeit, denn sie ist auch bei den kommenden Mülheimer Theatertagen eingeladen. Und Sidler ist ein Kunststück gelungen: Denn er ist zugleich Regisseur der Heidelberger Produktion "Beben", die ebenfalls in Mülheim zu sehen ist.

In "Fräulein Agnes" kann die Widersprüchlichkeit der Kritikerin nicht gut ausgehen, denn der Menschenfeind in ihr gewinnt immer stärker die Oberhand. Zu Beginn steht ihr journalistisches Ethos der Wahrheit und Objektivität im Vordergrund - das ist relativ unproblematisch, solange die Verrisse auf beruflicher Ebene stattfinden. Auf Dauer nicht folgenlos können sie bleiben, wenn sie in ihr direktes soziales Umfeld einschlagen: in die Kultur-WG, sogar in Agnes‘ Familien- und Liebesleben.

Rebecca Klingenberg gibt die Kritikerin Agnes, die Menschen reihenweise über die Klinge ihrer rabiaten Urteile springen lässt, während der zweistündigen Aufführung darstellerisch und auch sprachlich souverän. Gleich am Anfang übergießt sie das Publikum mit einer langen Rundumschlag-Suada. Vor ihrem vermeintlich unbestechlichen Blick findet selbst ihr Sohn Orlando, ein minderbegabter Popsänger (Marius Ahrendt) keine Gnade. Immer stärker überschreitet Agnes‘ alles und jeden sezierende Sicht die Schranke zum Persönlichen und trifft nahe Freunde ebenso wie ihren Lover im zeitlos anmutenden Altbau-Menschenbiotop (Bühne: Friedel Vomweg).

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Und dort kommen wunderbare Orchideen-Typen zusammen (Kostüme: Bettina Latscha). Agnes‘ Geliebter Sascha wird von Christoph Türkay als allseits begehrter viriler Womanizer gespielt, bei dem es trotz seiner offenbar großen körperlichen Möglichkeiten nur zu einem kurzen Kurzfilm reicht. Dann ist da der völlig weltabgewandte Philosoph Elias, den Florian Donath als krasse Mischung aus Gandhi und Sokrates darstellt.

Hinzu kommen Agnes‘ Freundin Fanny, ebenfalls Journalistin (Angelika Fornell), sowie ihre Langzeitbekanntschaft Adrian, inzwischen Familienvater (Florian Eppinger). Schließlich mischen die Kultur-Groupies Annabelle und Cordula (Gaia Vogel, Felicitas Madl) Agnes‘ Salon-WG immer wieder erotisch auf. Denn die Kultur ist hier vollständig von Sexkultur durchtränkt, wie choreografierte Zwischenszenen mit viel Körpereinsatz (Valenti Rocamora i Torà, Musik: Jan-S. Beyer) deutlich machen.

Dass Agnes, diese Göttin des Kritik-Gemetzels, ausgerechnet in der Illustrierten-Utopie des freien Landlebens einen Ausweg aus ihren Dilemmata erblickt, zeigt nur, dass sie selbst auch - und vielleicht besonders lebensblind - zu den mittelmäßigen Menschen mit ihren kleinen Fluchten zählt. Ihre ganze Wohngemeinschaft verweist auf ein soziales Endzeitszenario mit gescheiterten Menschen ohne Zukunftsentwürfe, die im Hier und Jetzt gerade so Unterschlupf finden. Sie alle haben durchaus die Empfindung: "Zum Kotzen, diese Mitmenschen!"

Rebekka Kricheldorf mag ihr Drama an Molières "Menschenfeind" angelehnt haben, aber es atmet doch zugleich Tschechowsche Rückzugsidyllen. Sind diese auch für das heutige Deutschland von Bedeutung? Das schien bei der spannenden Heidelberger Aufführung durchaus der Fall zu sein. - Starker Applaus.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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