Das Paradoxon will den Widerspruch mit "Extra Bold"
In der Heidelberger Altstadt hat ein neues Kreativzentrum eröffnet.

Von Daniel Schottmüller
Ganz schön mutig. Carmen Westermeier hat nicht nur eine autobiografische Ausstellung zum Thema Dicksein konzipiert, in der sie sich selbst freizügig in Szene setzt. Die Künstlerin hat sich in den vergangenen Wochen auch an den Eingang zum Ausstellungsraum gesetzt, um Fragen zu "Extra Bold" zu beantworten.
In der Unteren Straße nicht ohne Risiko. Denn hier sind eben nicht nur Kunstkenner und Menschen unterwegs, die sich für die Diskriminierung dicker Körper interessieren. Nein, es sei auch der ein oder andere angeheiterte Kneipengänger reingeschneit, erzählt Carmen Westermeier beim Videointerview. "Manche haben gelacht oder mir offen gesagt, wie abstoßend sie die Fotografien finden." Ihre Reaktion: "So lange es ohne persönliche Beleidigungen abläuft, können wir uns gerne über die Kunst unterhalten."
Austausch ist im Paradoxon erwünscht. Nicht nur deshalb passt "Extra Bold" als Premierenausstellung hierher. Denn dass eine Gruppe von Heidelbergern mitten in der Pandemie einen Verein gründet, um ein leer stehendes Altstadthaus in ein Non-Profit-Kulturzentrum zu verwandeln, kann man ebenfalls als mutig bezeichnen. Sofia Leser ist aber nicht nur bereit, Risiko einzugehen, sie strahlt dabei auch noch eine ansteckende Begeisterung aus.
So konnte die junge Frau mit den grünen Haaren direkt eine bunte Gruppe von Menschen für ihre Vision begeistern: Studenten, Juristen, Rentner, Lehrer. Sie wollen sich künftig in der Unteren Straße 15 austauschen, voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren. "Erst neulich kam ein zwölfjähriges Mädchen auf mich zu, das einen Lesekreis starten will. Der Älteste wiederum ist bereits 70 – bald wird hier seine allererste Ausstellung zu sehen sein", zeigt die Initiatorin die Bandbreite im Paradoxon auf.
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Begonnen hat alles mit einem Aufruf, den Sofia Leser im vergangenen Jahr über die Social-Media-App Instagram gestartet hat. Ein neuer Ort für kulturelle Zwecke schwebte ihr vor. Einer, der nicht nur Etablierten Möglichkeiten zum Kreativwerden eröffnet. Das kam an: Viele Heidelberger reagierten mit Nachrichten, und im Herbst entschlossen sich 20 von ihnen, einen neuen, unkommerziellen Kulturverein zu gründen. "Damals kannte ich noch keinen persönlich", erinnert sich die 27-Jährige. "Inzwischen sind wir Freunde geworden."
Die gemeinsame Arbeit schweißt zusammen. Innerhalb weniger Monate renovierten die mehrheitlich weiblichen Mitglieder die Räumlichkeiten. Sie beantragten Fördergelder, konzipierten eine Internetpräsenz und natürlich die monatlich wechselnden Kunstausstellungen und Wochenprogramme. "Eine Eingangsrampe fehlt uns noch, das Paradoxon soll schließlich barrierefrei zugänglich sein", blickt sich Sofia Leser um. Stromsparende Lichter kämen noch, auch Spiegel für Tanz- und Kampfsportkurse und, klar, eine Kaffeeküche, sagt sie und deutet mit einladender Geste in den Raum. Im hinteren Bereich, wo im Moment großformatige Bilder Carmen Westermeier beim Acro-Yoga zeigen, wird tatsächlich bald schon Yoga angeboten werden.
Einen Schreibworkshop und einen Kleidertausch hat das Paradoxon alleine in dieser Woche beheimatet. Perspektivisch sollen Konzerte und Handarbeitskurse folgen. Vielleicht sogar ein Graffiti-Spraykurs für Ü-60-Jährige? Paradoxon heißt die Kulturstätte auch, weil hier Gegensätze akzeptiert und gefeiert werden. "Wir alle sind ein Paradoxon", findet Sofia Leser. "Herz und Kopf liegen doch den ganzen Tag miteinander im Clinch", sagt sie und lacht. In einer Zeit, in der Konflikte den Diskurs dominieren, will sie mit ihrem Verein einen Rückzugsort bieten, wo man vielleicht auch einfach mal auf Sitzkissen entspannen und reden kann.
Nicht zuletzt in der Isolation der Lockdowns hat die junge Frau gespürt, wie wichtig das Miteinander ist, um zusammen individuelle Träume zu verwirklichen. Ihre Idee von einem Ort, an dem eine diverse und kreative Community zusammenkommt, hat aber vielleicht auch mit ihrer Kindheit zu tun: "Ich bin in Costa Rica aufgewachsen", erzählt sie. Die Mutter arbeitete in der Touristikbranche, der Vater war Handwerker. "In meiner Kindheit wurde gefühlt überall gemeinsam gefeiert, getanzt, gegessen und musiziert", schildert sie. Diese Vielfalt prägt Sofia Leser, auch wenn sie schon Jahre in Heidelberg wohnt. In der Start-up-Szene kennt man sie hier spätestens, seit sie 2021 in der Unteren Straße den Keramikofen übernommen hat. Fans von Elektromusik ist sie schon länger als DJ Sole Fia bekannt (noch Zukunftsmusik, "aber Turntables in der Fensterfront des Paradoxon wären ein Traum"). Gerade in der Musik spielt Vernetzung eine wichtige Rolle. "Ich glaube, es gibt viele Kollektive in Heidelberg, aber es fehlt an Auftrittsmöglichkeiten." Auch deshalb fand sie es schade, dass die Rollläden des früheren Souvenirladens gegenüber vom Keramikofen eineinhalb Jahre geschlossen waren. "In der Unteren Straße kann man mehr als Saufen", ist Sofia Leser überzeugt. "Das ist eine magische Straße, in der Kunst möglich ist", sagt sie und lächelt. Die Nachbarn freuen sich jedenfalls, dass mit dem Paradoxon die Kultur eingezogen ist. Einige sind bereits Vereinsmitglieder geworden.
Das gilt auch für Carmen Westermeier. Ihre Rauminstallation wird im Februar der nächsten Ausstellung Platz machen – Hamide Özdemir stellt ab Mitte des Monats aus –, trotzdem ist sie dankbar, dass sie das Paradoxon einweihen durfte. "Ich hoffe, meine Ausstellung hat einige zum Nachdenken gebracht. Andere sind vielleicht mit dem Gefühl herausgegangen, dass sie nicht alleine sind."
Info: Mehr zur Ausstellung "Extra Bold" und dem neugegründeten Verein unter carmen-westermeier.de bzw. paradoxon-heidelberg.com.



