Für Nemo ist Vielfalt keine Gefahr
Der gefeierte ESC-Gewinner "Nemo" ist nach einer Pause selbstbewusst und Paris ist sein neuer Lebensmittelpunkt.

Von Steffen Rüth
Man kann nicht behaupten, dass Nemo die Sache mit dem Album überhastet angegangen wäre. Immerhin sind nun anderthalb Jahre vergangen seit dem überwältigenden Sieg für die Schweiz beim Eurovision Song Contest mit "The Code", aber es ist auch nicht so, als wäre Nemo, vor 26 Jahren als Nemo Mettler in Biel geboren, in Vergessenheit geraten. RNZ-Autor Steffen Rüth unterhielt uns mit Nemo per Zoom in Paris die lebenslange Suche nach sich selbst.
Nemo, wo erreichen wir dich?
Ich wohne jetzt in Paris. Ich bin viel hin und hergezogen in letzter Zeit und finde gerade heraus, wo ich bleiben will. Letztes und Anfang dieses Jahr habe ich in London zur Untermiete gelebt, seit Juni bin ich nun in Paris, nachdem es mich eher zufällig hierher verschlagen hat, weil ich mit dem Produzenten Liam Maye in Paris mein Album fertigstellen wollte. Nun bin ich seit vier Monaten hier und finde es sehr schön hier.
Was ist für dich das Besonderes an der Stadt?
Mich fasziniert die Geschichte von Paris. Seit langer Zeit steht diese Stadt für Kultur aller Art, für Musik, Film, visuelle Kunst, Fashion. All das kommt hier zusammen. Paris ist für mich ein Ort der Bewegung und der Begegnung. Die Innenstadt ist eher klein, man kommt hier auf engem Raum zusammen, ich habe in Paris so ein energetisches, schwer zu beschreibendes Lebensgefühl. Ich bin einfach sehr im Einklang mit dem Gefühl, das diese Stadt in mir auslöst.
Was ist mit Biel, deiner Schweizer Heimat?
Biel ist nicht der Ort, den ich im Moment zu meinem Lebensmittelpunkt machen will. Aber es ist ein Ort, an den es mich immer wieder zurückzieht. Meine Eltern leben dort, ich fühle mich Biel sehr verbunden und kann da sehr gut meine Batterien aufladen.
So wie du nach einem Platz suchst, an dem du dich niederlassen möchtest, so erzählst du in "Unexplainable" über die Suche nach dir selbst. Hast du herausfinden können, wer du bist?
Kann man das überhaupt jemals herausfinden? Ich glaube, dass diese Suche der essenziellste Teil des Lebens ist. Sich besser verstehen zu lernen, ist ein Prozess, den ich sehr schätze – sei es, was meine Musik betrifft, meine Identität oder meine Emotionen. Ich glaube, ich lerne jeden Tag dazu und hoffe, dass das immer so bleibt. Sonst würde mir wahrscheinlich schnell langweilig.
Ist deine sexuelle Identität – nichtbinär und pansexuell – noch aktuell?
Ja, das ist sie. Aber ich merke, dass ich erst die Spitze des Eisbergs erreicht habe, was meine emotionale Welt betrifft. Ich habe weitaus mehr als 10.000 Stunden in meine Musik investiert. Dadurch hatte ich für andere Sachen vielleicht weniger Zeit. Jetzt fände ich es sehr spannend, die nächsten 10.000 Stunden in Gespräche mit Freundinnen und Freunde zu investieren, die sehr gut im Umgang mit ihren Emotionen sind. Das mache ich auch – ob sie wollen oder nicht.
Denkst du, die Forschungsreise in die Tiefen deiner Gefühlswelt wird angenehm?
Ich denke, es wird angenehme und sehr unangenehme Moment geben. Alles gehört dazu. Bei mir war in den vergangenen zwei Jahren extrem viel los, und ich fand es schwierig, Sachen zu verarbeiten, weil einfach keine Zeit dafür war oder ich mir diese Zeit nicht genommen habe. Irgendwann habe ich gemerkt, ich gehe unter dem ganzen Druck verloren, wenn ich nicht anfange, mehr Zeit in mich selbst zu investieren
Was hast du dann gemacht?
Zum Beispiel angefangen, mehr aufzuschreiben, Tagebuch zu führen.
Morgens oder abends?
Vor dem Schlafengehen. Das hilft mir sehr, den Tag zu verarbeiten, mich zu fokussieren und auch ein bisschen die Gedanken einordnen und loslassen zu können. Oft verstehe ich meine Gedanken auch erst, wenn ich sie aufgeschrieben habe, vorher drehen die sich so im Kopf.
Schläfst du seither besser?
Ich habe schon immer gut geschlafen. Ich verbrauche tagsüber viel Energie, deshalb bin ich abends einfach müde.
"Unexplainable" ist eine von wenigen Balladen auf deinem Album. Ansonsten gehen die Songs wirklich gut ab und zielen zumeist auf den Dancefloor. Hattest du ein klares Konzept für "Arthouse"?
Das Album lebt so ein bisschen von der Zeit, in der wir uns befinden. Ich will sehr bewusst mit "Arthouse" eine hoffnungsvolle Stimmung verbreiten. Die Kunst läuft in vielen Teilen der Welt Gefahr, kontrolliert oder zur Seite geschoben zu werden. Ich will mich diesem gefährlichen Trend widersetzen, und deshalb ist es mir extrem wichtig, der Kunst einen Platz zu geben. Für mich ist Kunst eine Essenz des Lebens. Ich will mit meiner Musik einen Ort der Gemeinschaft schaffen, an dem alle Leute willkommen sind und wo Unterschiede zelebriert und nicht abgelehnt werden. Meine Konzerte sind Zusammenkünfte von Menschen, die sich dort aufgehoben, verstanden und so akzeptiert fühlen sollen, wie sie sind.
Auch du wurdest schon mit Anfeindungen und Hass, speziell in den sozialen Medien, konfrontiert. Was hat dich davor bewahrt, nicht zu verzweifeln?
In erster Linie mein Umfeld. Ich fühle mich unglaublich verstanden und aufgehoben und bin sehr dankbar, wunderbare Menschen um mich zu haben. Ich wundere mich, warum nicht alle Menschen erkennen, wie schön das Leben ist. Es ist doch keine Utopie, dass die Menschen offen und divers und einander anerkennend zusammenleben. Vielfalt ist doch keine Gefahr! Sondern etwas Wundervolles.
Mit deinem Album hast du dir, wie man so sagt, Zeit gelassen. "Arthouse" kommt anderthalb Jahre nach dem ESC. Wolltest du die Dinge nicht überstürzen?
Mein Terminkalender füllte sich von selbst, ich kam gar nicht mehr zum Musikmachen. Irgendwann war ein halbes Jahr des Ausnahmezustands vorbei, und ich war immer noch auf Reisen mit diesem Song. Vielleicht hätte ich lieber nur ein, zwei Monate intensiv Promo machen und mich danach ins Studio zurückziehen sollen. Aber jetzt ist es auch egal. Ich denke, die achtzehn Monate haben meinem Album gutgetan. Je mehr Zeit vergeht, desto selbstbewusster fühle ich mich in meinen Entscheidungen und mit meinem Bauchgefühl.
Info: Nemo tritt am Mittwoch, 29. Oktober, in Köln auf. Tickets kosten 35,20 Euro



