"Warum hast du so lange Zähne?"
Von Rotkäppchen, blutrünstigen Werwölfen und anderen Angstprojektionen

Die Schöne und das Biest: Das schauerromantische Märchen über Rotkäppchen und den Wolf zieht sich nicht erst seit den Brüdern Grimm durch die Kulturgeschichte. Auch als Tattoo macht die Geschichte viel her. Diese Rückenansicht wurde vor zwei Jahren bei der "Tattoo-Convention" in Frankfurt am Main aufgenommen. Foto: Boris Roessler
Von Volker Oesterreich
Bei uns im Odenwald hat man ein ganz besonderes Verhältnis zu allem Wölfischen. Das liegt nicht nur daran, dass vor gut 150 Jahren der letzte Wolf in der Nähe von Eberbach erschossen und damit die Spezies in Deutschland ausgerottet wurde, sondern auch an der Wolfsschlucht hinterm Zwingenberger Schloss, die immer wieder den Anlass dafür bietet, im dortigen Schlosshof Carl Maria von Webers spätromantische Oper "Der Freischütz" aufzuführen. In der Wolfsschlucht-Szene werden unter dem Beistand des teuflischen Samiel verzauberte Gewehrkugeln gegossen. Dabei erscheinen wilde Tiere und Nachtgespenster. Als Vorlage für die 1821 uraufgeführte Oper diente das "Gespensterbuch", das Weber 1810 in der Bibliothek von Stift Neuburg gefunden hatte.
Noch bekannter ist natürlich das Wolfsmotiv aus den Grimm’schen Märchen. Das alleine durch den Wald zur Großmutter laufende Rotkäppchen erlebt am Ziel seiner Wanderung ein wahres Schreckensszenario: Der böse Wolf hat die Großmutter gefressen und sich mit deren Nachthemd getarnt im Bett versteckt: "Ach Großmutter, was hast du für ein so großes Maul und so lange Zähne!?", lautet Rotkäppchens erschreckte Frage, als es das Untier nach seiner Ankunft erblickt. Der Text steht an 26. Stelle der "Kinder- und Hausmärchen", die von Jacob und Wilhelm Grimm zwischen 1812 und 1858 herausgegeben wurden.
Doch es gibt noch viel ältere Fassungen des mündlich tradierten Stoffs. Die älteste stammt aus dem Jahr 1695 und wurde von Charles Perrault verfasst. Der Gehalt des Rotkäppchen-Stoffs wird häufig tiefenpsychologisch gedeutet - bis hin zur sexuell aufgeladenen Missbrauchsthematik.
In anderen alten Mythen, aber auch in der Fantasy-Literatur und im Horrorfilm treiben Werwölfe ihr Unwesen. Schon im Gilgameschepos aus altbabylonischer Zeit und in den Metamorphosen des Ovid gibt es Szenen über die Verwandlung eines Menschen in einen Wolf.
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In der Bibel erscheint der Wolf ebenfalls mehrfach als gefährliches Tier. Wenn "der Wolf beim Lamme" liegt, so wird dies von Jesus Sirach als Gleichnis für den Umgang zwischen Sündern und Gerechten gedeutet. Jesaja verwendet das utopische Bild dagegen als Metapher für den Beginn des Reiches Gottes.
In der Kulturgeschichte tauchen nicht nur negativ konnotierte Wolfsmythen auf. So wurden beispielsweise Romulus und Remus, die Gründer Roms, von einer Wölfin gesäugt. Die bildkünstlerische Darstellung der Kapitolinischen Wölfin und zahlreiche antike Münzbilder erinnern daran. Und wenn Mowgli im "Dschun- gelbuch" Rudyard Kiplings von einem Wolfsrudel gerettet wird, so wird auch hier das düstere Klischee, das mit diesen Tieren verbunden ist, in sein Gegenteil verkehrt. Bleibt noch die Redewendung vom "Wolf im Schafspelz". Dieser Spezies begegnet man in Wahlkampfzeiten häufig in Gestalt von Politikern, die uns mit dem freundlichsten Lächeln im Gesicht alles Mögliche versprechen, um alles im Fall ihrer Wahl prompt wieder zu vergessen - entweder aus Gründen der Parteiraison, aus purem Pragmatismus oder aufgrund ihres wölfischen Karrierestrebens. Zum Jaulen! Der ganz reale Wolf, der gerade in unserer Region gesichtet wurde, ist im Vergleich recht harmlos.