Bestseller-Autor Kermani wirft Blick auf Ängste und Bedürfnisse
"Man wird erst frei, wenn man sich an etwas bindet": Navid Kermani ist klar im Denken und poetisch in der Sprache.

Von Marco Partner
Mannheim. "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen." Das ist keine versöhnende Bitte, die perfekt in einen zerrissenen Zeitgeist passt, sondern der Titel eines Bestsellers von Navid Kermani, der in einem Vater-Tochter-Gespräch Fragen zu Gott und den Wurzeln der Religionen aufwirft. Im Rahmen der Klimalesungen der Buga23 war der deutsch-iranische Schriftsteller nun auf der Seebühne im Luisenpark zu Gast. Ins Buch schaut der Erfolgsautor dabei selten – dafür blickt er tief in die inneren Ängste und Bedürfnisse der Menschen und die Wunder dieser Welt hinein.
Er ist klar in seinem Denken und poetisch in seiner Sprache. Nicht nur, wenn Kermani schreibt, auch wenn er frei spricht, kommen erhellende Aphorismen zum Vorschein. "Wir wollen die Probleme und Kriege der Welt nicht wahrnehmen, bis sie bei uns zu Hause sind", sagt er zum Beispiel über den Krieg in der Ukraine. Selbst Paradoxien ergeben beim 2015 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneten Autoren Sinn. "Man wird erst frei, wenn man sich an etwas bindet", sagt Kermani. "Jeder, der liebt, wird das sofort verstehen", fügt er hinzu.
Die Liebe zur Familie und zu den Religionen war es auch, die den habilitierten Orientalisten zu seinem sehr persönlichen Werk, das lange die Spiegel-Bestseller-Liste anführte, gebracht hat. Dabei knüpfte er ein Generationen verbindendes Band. Sein Vater bat ihn am Sterbebett, seiner Enkelin den Islam zu lehren. Der Sohn und Vater einer damals 12-jährigen Tochter tat es auf seiner Weise, und fokussierte sich nicht nur auf den Koran, sondern begab sich auf die Suche nach dem Kern der Religionen, der alle Gläubigen eint.
Die Fragen an Gott: Woher kommen wir, woher gehen wir? "Dazu gibt es keine klaren Antworten, aber jeder Mensch stellt sich diese Fragen", betont er im Gespräch mit Moderatorin Sandra Kegel von der FAZ. Heute müsse man nicht mehr in die Kirche oder Moschee gehen, um religiöse Erfahrungen zu sammeln. "Diese Aufgaben hat die Kunst übernommen, ein Konzert kann ein religiöses Erlebnis sein, bei dem man sich selbst vergisst und das kleine Ich überwunden wird. Die Beweggründe mögen andere sein, die Vorgänge aber sind vergleichbar", betont er.
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Was den Schriftsteller beunruhigt, sei weniger der Rückgang der Religionen im öffentlichen Leben, sondern die Sorge, dass wertvolles Wissen dabei verloren geht. "So wie der Glaube nur in Freiheit entstehen kann, setzt diese Freiheit das religiöse Wissen voraus. Wenn wir kein Wissen zu Religionen und Glauben haben, haben wir auch keine Wahl, uns dagegen zu entscheiden", betont er. Dieser Wegfall sei auch Nährboden für Dogmen und Ismen, für eigene Konstruktionen und Radikalisierung.
Dabei seien die Heiligen Schriften – ob Bibel oder Koran – nicht als vom Himmel gefallene Werke zu verstehen. "Sie bilden vielmehr das ganze Spektrum menschlicher Erfahrungen ab. Ein lieber, milder Gott wäre nur ein Teil dieser Erfahrungen. Die Geschichte von Kain und Abel, der Brudermord aber zeichnet ein realistischeres Bild vom Menschen. Einer schlägt den anderen zu Tode, obwohl er uns nahesteht", erklärt er. Die Frage nach dem Warum gehe für Kermani aber über die Religion hinaus und in die menschliche Natur hinein.
Der Mensch und die Natur: Der scheinbar unlösbare Konflikt, ein endliches Wesen in einer unendlichen Welt zu sein, führt Kermani letztlich zur Quelle der Religionen. "Die bewusste Abhängigkeit von äußeren Mächten war in der vorindustriellen Zeit viel lebendiger. Heute ist es nicht so, dass wir weniger abhängig sind, nur denken wir weniger daran. Aber wir sind gar nicht so autonom, wie es sich der moderne Mensch gerne einredet", sagt Kermani – und liest aus seinem Buch vor.
Der Islam oder das Christentum sind nicht in Büros, Bibliotheken oder Klassenzimmern entstanden, heißt es da. Vielmehr entstanden sie, als Menschen in die Natur geschaut, sich um ihre Liebsten gesorgt haben, bei der Geburt, beim Tod, den wichtigsten Ereignissen jedes Menschen. "Als sie merkten, dass sie Unendlichkeit umgibt." Als sie über Erscheinungen und Geschehnisse staunten, die man zwar sieht, aber nicht erklären kann, die unseren Verstand übersteigen und "beängstigend oder wunderschön" sein können.
Dieses beinahe kindliche Staunen müsse auch zugelassen werden. Für Kermani zumindest ist es der Ursprung der Religionen. "Sie ist die Beziehung zwischen dem Endlichen, das wir sind, und dem Unendlichen, was uns umgibt", betont er. Woher kommen wir, wohin gehen wir? Die Fragen bleiben, und sie machen letztlich das Leben aus. "Denn eine Welt ohne diese Fragen, wäre eine sehr arme Welt."



