Warum es dem Awo-Seniorinnen-Ballett an Sensibilität mangelt
Weltreise durch die Stereotypen: Das Awo-Ballett hat am Mittwoch seinen ersten Buga-Auftritt.

Von Olivia Kaiser
Mannheim. Ein Aufschrei ging durch die Republik, als bekannt wurde, dass das Awo-Seniorinnen-Ballett aus dem Mannheimer Stadtteil Rheinau bei der Buga nur auftreten darf, wenn es drei Kostüme abändert. Ihr Tanz könnte in Teilen kulturelle Aneignung sein, sagte die Buga-Gesellschaft. Es ging dabei zwar nicht nur um einen Sombrero, doch er wurde zum Sinnbild für eine hitzig geführte Diskussion.
An diesem Mittwoch ist es nun so weit: Die Frauen haben ihren ersten Auftritt auf der Hauptbühne des Spinelli-Geländes und zeigen ihre "Weltreise mit dem Traumschiff" in abgewandelter Form. Mit kultureller Aneignung ist das so eine Sache. Viel wird in einen Topf geworfen, es wird generalisiert und Äpfel mit Birnen verglichen. Anlässlich der Spinelli-Premiere wagt die RNZ daher einen subjektiven Blick auf das "Sombrero-Drama" und die Folgen. Also Vorsicht: Meinung.
> Unglückliche Übersetzung: Was ist kulturelle Aneignung, und handelt es sich bei dem Tanz der Awo-Seniorinnen wirklich darum? "Nein", meint Lars Distelhorst (Foto: Die Hoffotografen Berlin), Professor für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule des Mittelstands in Berlin. Er hat ein Buch zu dem Thema geschrieben. Schon den Begriff "kulturelle Aneignung" hält er für eine unglückliche Übersetzung von "cultural appropriation". "Das ist dem Phänomen nicht angemessen", sagt der 50-Jährige. Appropriation in diesem Fall mit Aneignung zu übersetzen, greift semantisch zu kurz, denn im Englischen impliziert der Begriff eine Unfreiwilligkeit.
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Eine bessere Übersetzung wäre wohl Besitzergreifen, oder wie Distelhorst sagt: "Diebstahl beziehungsweise Enteignung." Aneignung dagegen hat nicht zwangsläufig mit Diebstahl zu tun. So kann man sich Wissen oder Fähigkeiten aneignen. Die unzulängliche Übersetzung könnte zudem ein Grund sein, warum sich viele Deutsche mit dem Begriff schwertun und das Phänomen oft bagatellisieren. Denn Sprache hat einen Einfluss auf unser Denken und wie wir die Welt sehen.
> Ungleichgewicht der Macht: Distelhorst nennt drei Faktoren für kulturelle Aneignung: Zwischen der ...
Von Olivia Kaiser
Mannheim. Ein Aufschrei ging durch die Republik, als bekannt wurde, dass das Awo-Seniorinnen-Ballett aus dem Mannheimer Stadtteil Rheinau bei der Buga nur auftreten darf, wenn es drei Kostüme abändert. Ihr Tanz könnte in Teilen kulturelle Aneignung sein, sagte die Buga-Gesellschaft. Es ging dabei zwar nicht nur um einen Sombrero, doch er wurde zum Sinnbild für eine hitzig geführte Diskussion.
An diesem Mittwoch ist es nun so weit: Die Frauen haben ihren ersten Auftritt auf der Hauptbühne des Spinelli-Geländes und zeigen ihre "Weltreise mit dem Traumschiff" in abgewandelter Form. Mit kultureller Aneignung ist das so eine Sache. Viel wird in einen Topf geworfen, es wird generalisiert und Äpfel mit Birnen verglichen. Anlässlich der Spinelli-Premiere wagt die RNZ daher einen subjektiven Blick auf das "Sombrero-Drama" und die Folgen. Also Vorsicht: Meinung.
> Unglückliche Übersetzung: Was ist kulturelle Aneignung, und handelt es sich bei dem Tanz der Awo-Seniorinnen wirklich darum? "Nein", meint Lars Distelhorst (Foto: Die Hoffotografen Berlin), Professor für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule des Mittelstands in Berlin. Er hat ein Buch zu dem Thema geschrieben. Schon den Begriff "kulturelle Aneignung" hält er für eine unglückliche Übersetzung von "cultural appropriation". "Das ist dem Phänomen nicht angemessen", sagt der 50-Jährige. Appropriation in diesem Fall mit Aneignung zu übersetzen, greift semantisch zu kurz, denn im Englischen impliziert der Begriff eine Unfreiwilligkeit.
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Eine bessere Übersetzung wäre wohl Besitzergreifen, oder wie Distelhorst sagt: "Diebstahl beziehungsweise Enteignung." Aneignung dagegen hat nicht zwangsläufig mit Diebstahl zu tun. So kann man sich Wissen oder Fähigkeiten aneignen. Die unzulängliche Übersetzung könnte zudem ein Grund sein, warum sich viele Deutsche mit dem Begriff schwertun und das Phänomen oft bagatellisieren. Denn Sprache hat einen Einfluss auf unser Denken und wie wir die Welt sehen.
> Ungleichgewicht der Macht: Distelhorst nennt drei Faktoren für kulturelle Aneignung: Zwischen der Kultur, von welcher der Diebstahl ausgeht und derjenigen, die ihn erleidet, besteht ein grobes Machtungleichgewicht. Die Inhalte werden grob verzerrt, lächerlich gemacht oder verschwinden ganz, und die Mehrheit der Betroffenen hat artikuliert, dass sie damit nicht einverstanden ist.
> Warum das Dirndl-Argument nicht greift: Es handelt sich nicht um kulturelle Aneignung, wenn ausländische Besucher beim Oktoberfest Tracht tragen oder wenn im Ausland Oktoberfest gefeiert wird. Und wenn wir gleich dabei sind: Man darf in Deutschland auch mit gutem Gewissen Jeans tragen. Allerdings war es kultureller Diebstahl, als die französische Designerin Isabel Marant 2020 traditionelle Muster von indigenen Völkern Mexikos für eine Kollektion verwendete, ohne um Erlaubnis zu fragen. Beim Kulturdiebstahl geht es – wie so oft – auch ums Geld.
Und was ist mit Sportarten wie Judo oder Aikido – oder mit Gospelmusik? Distelhorst gibt Entwarnung: "Ich mache selbst seit vielen Jahren Kampfsport. Im Fall der Kampfkünste ging man gezielt in die Welt hinaus, weil man seine Kultur weitergeben wollte. Bei Gospelchören wäre die erste Frage: Hat sich denn schon mal jemand beschwert? Wenn sich niemand beschwert, funktioniert es offensichtlich."
> Stereotype können verletzen: Der Tanz des Awo-Balletts wird also falsch diskutiert. Für den Sozialwissenschaftler geht es dabei weniger um kulturelle Aneignung als um Stereotypenbilder. Eine "Weltreise mit dem Traumschiff" wollen die Awo-Frauen machen. De facto laufen sie aber gar nicht aus dem Hafen aus: "Sie bleiben zu Hause und stellen die Leute so dar, wie sie glauben, dass sie sind." Die Meinung, dass Mexikaner zwingend mit Poncho und Sombrero dargestellt werden müssen, sei nicht von der Kultur selbst, sondern von außen erfolgt. Und genau darin liegt der Unterschied zwischen kultureller Aneignung und kulturellem Austausch.
Letzterer kann nämlich durchaus zwischen Ländern mit einem Machtungleichgewicht erfolgen, den Unterschied macht die Freiwilligkeit. Bei der Stereotypenbildung gibt es allerdings keine freiwillige Übereinkunft, wie man miteinander umgeht. Oft können Stereotypen auch verletzen. Verständlicher wird das vielleicht, wenn man den Spieß einmal umdreht: Viele Deutsche sind auch nicht begeistert, wenn sie mit Pickelhaube dargestellt werden.
> Mangelnde Sensibilität: Die Awo-Tänzerinnen haben mehrfach betont, dass sie mit ihrer Darbietung niemanden beleidigen wollten. Natürlich wollten sie das nicht, und rassistisch sind sie auch nicht. Die Frauen engagieren sich ehrenamtlich, das ist toll, aber es mangelt ihnen an Sensibilität gegenüber den Menschen, die mitunter doch sehr platt in der ursprünglichen "Weltreise" dargestellt werden und ihrer eigenen Instrumentalisierung im Nachgang.
Natürlich war das Angebot, im Europa-Park aufzutreten, verlockend. Allerdings dürfte die Solidarität von Europa-Park-Inhaber Roland Mack vor allem etwas mit der Aussicht auf Gratis-PR zu tun gehabt haben. Noch unverhohlener trieb es Ballermann-Sänger Ikke Hüftgold mit seinem Unterstützer-Song "Sombrero! Ihr habt den A *** offen", der jetzt seine Kasse klingeln lässt und den Seniorinnen empfiehlt, ohne Kleidung aufzutreten. Da hätte man sich von den sonst nicht auf den Mund gefallenen Frauen eine klare Distanzierung gewünscht.
> Mehr Solidarität für Rassismus-Opfer: Dass die Wellen in der Region hochschlugen, ist verständlich, doch die Empörung von Flensburg bis Garmisch ob der Buga-Reaktion hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack, auch bei Distelhorst: "Die Solidaritätswelle, die sich da breit machte, weil der Auftritt eines Rentnerinnen-Balletts in Gefahr war, würde ich mir für Menschen wünschen, die auf ihrer Flucht im Mittelmeer in Seenot geraten oder in ihrem Alltag rassistisch diskriminiert werden. Das zeugt auch von der Dysfunktionalität der Medienlandschaft." Der Fall zeigt leider zu genau, dass Menschen, die unter dem strukturellen Rassismus innerhalb unserer Gesellschaft leiden, keine besonders starke Lobby haben.
> Raus aus der Komfortzone: Die Diskussionen um kulturelle Aneignung und strukturellen Rassismus haben etwas gemeinsam. Es ist schmerzlich, sich damit zu beschäftigen, weil man aus der Komfortzone geholt und gezwungen wird, sich mit seinen eigenen Vorurteilen zu beschäftigen und lieb gewonnene gesellschaftliche Normen wie stereotypische Verkleidungen zu hinterfragen. Doch nur weil bestimmte Verhaltensweisen oder Wörter früher gesellschaftlichen Konsens genossen, muss das nicht zwangsläufig so bleiben. Sonst gäbe es wohl immer noch Leibeigenschaft und kein Wahlrecht für Frauen.
> Bühne frei: Und die Awo-Seniorinnen? Hals- und Beinbruch für die Buga. Und wenn es künftig Veranstalter gibt, die sie ohne Änderung auftreten lassen: Bühne frei. Aber dann müssen auch kritische Worte erlaubt sein.
Auftritt ohne anschließende Diskussion
Von Alexander Albrecht
Mannheim. Buga-Premiere ohne Debatte: Nach dem ersten von sechs Gastspielen des Rheinauer Awo-Balletts an diesem Mittwoch um 15 Uhr auf der Hauptbühne des Spinelli-Parks gibt es keine Gesprächsrunde. Wie Corinna Brod, die Sprecherin der Bundesgartenschau, auf RNZ-Anfrage sagte, habe sich bei der Vorbereitung der Diskussionsveranstaltung gezeigt, "dass das Thema mit hoher Emotionalität behaftet ist". Die Organisatoren hätten es deshalb für dringend erforderlich angesehen, die Debatte vom eigentlichen Auftritt der Senioreninnentanzgruppe zu entkoppeln.
Man wolle das geplante Diskussionsformat nun auf eine "andere Ebene der Fachlichkeit und gegebenenfalls der Betroffenheit in dieser Frage" heben, verfiel Brod in ihrer schriftlichen Antwort etwas ins Soziologendeutsch. Die Veranstaltung werde daher zu einem späteren Zeitpunkt, aber im Rahmen der Bundesgartenschau, stattfinden. Einen Termin gibt es laut Brod noch nicht.
Zunächst sechs Kostüme beanstandet
Nach der ersten bundesweiten Aufregung um die Show hatten sich die Buga-Macher mit den 60 bis 85 Jahre alten Tänzerinnen Mitte April auf einen Kompromiss verständigt. Die Frauen sagten zu, bei der "Weltreise mit dem Traumschiff" auf das Tragen von Sombreros und schwarzen Perücken zu verzichten. Das Ägypterinnen-Kostüm wird komplett ersetzt.
Die Veranstalter hatten zunächst sechs Verkleidungen beanstandet, die ihrer Auffassung nach kulturelle Stereotype bedienten. Mit dem Auftritt auf der Hauptbühne wollen sie gleichzeitig den hohen Stellenwert des ehrenamtlichen Engagements der Awo-Frauen würdigen. Beschlossen wurde damals auch die Diskussionsrunde über die Fragestellung zu bewusster oder unbewusster Nutzung klischeebehafteter Kleidung und deren Auswirkung vor dem Hintergrund des großen Medienechos.
Ob das tatsächlich im Sinne des Ensembles war? "Wir wollen tanzen und Freude bereiten", betonte Erika Schmaltz, Leiterin der Seniorinnengruppe, immer wieder. Und das taten die Frauen am 1. Mai dann auch – im Europa-Park. Mit Sombreros, schwarzen Perücken und Ägypterinnenkostümen.
Info: Weitere Auftritte des Awo-Balletts bei der Buga am 19. Juni, 12. Juli, 6. August, 13. September und 4. Oktober, jeweils um 15 Uhr.
Lars Distelhorst: Kulturelle Aneignung, Nautilus Flugschrift, 2021, ISBN: 978 3 96054.268.1