Heute ist hier nur noch das leise Sirren der Deckenlampe zu hören: Lorenz Luger bei den Aufnahmen im Kulturzentrum Breidenbach Studios in Heidelberg. Das Fingerhut Kollektiv möchte Musiker dazu animieren, aus der Ruhe Inspiration zu schöpfen. Foto: Nadine Tress
Von Daniel Schottmüller
Heidelberg. Es ächzt im Scharnier. Ganz so, als wäre die Schwingtür gar nicht mehr gewohnt, sich zu bewegen. Die Portierglocke klingt motivierter. Hell und durchdringend füllt sie die Villa Nachttanz. Dass man diese Geräusche so deutlich wahrnimmt, liegt daran, dass es hier seit der coronabedingten Schließung verdammt ruhig geworden ist. Seit dem Ausbruch der Pandemie sind die Partys und Konzerte in dem mehrgeschossigen Haus im Heidelberger Stadtteil Pfaffengrund Geschichte.
Wo einst die Bässe wummerten, regiert jetzt die Stille. Das kann man gruselig finden. Oder man lässt sich davon inspirieren. Im Gespräch mit der RNZ wird schnell klar, für welche Variante sich Felipe Lehmann entschieden hat. Der junge Mann mit der Brille ist einer von vier Heidelberger DJs und Veranstaltern, die aus der Ruhe künstlerische Kraft schöpfen wollen. Oder anders gesagt: Sie möchten die Stille zu Musik machen.
Dazu haben Lehmann und seine Mitstreiter vom Fingerhut Kollektiv sieben Orte in Heidelberg aufgesucht, an denen sie vor dem ersten Shutdown Musik aufgelegt und Menschen zum Tanzen gebracht haben. "Wir waren nicht nur in der Villa Nachttanz, sondern auch im Karlstorbahnhof, auf dem Schmitthelm-Gelände und in den Breidenbach Studios", zählt der 25-Jährige auf. Dazu an drei weiteren Orten Open-Air-Spielorten, deren genaue Lage Lehmann lieber für sich behält. Bewaffnet war das Fingerhut Kollektiv mit Mikrofonen.
Leere Flaschen als Zeugen früherer Feiern. Foto: Nadine Tress"Vor Ort haben wir die Geräusche aufgenommen, die in der Abwesenheit der Musik zu hören waren", erzählt Lehmann. Glocke und Tür in der Villa Nachttanz sind nur zwei Beispiele. Auf dem Schmitthelm-Gelände ließen die DJs leere Bierflaschen klappern, im Karlstorbahnhof verträumte Klaviertöne erklingen. Dutzende weitere Geräusche stehen Interessierten jetzt im Internet zur Verfügung. Auf diese Klangpalette kann jeder, der möchte, weitere Töne aufschichten und am Ende sein eigenes Musikstück produzieren. "Vorgaben gibt es keine – nur mindestens eines unserer Geräusche sollte in das Lied in irgendeiner Weise einfließen", erklärt Lehmann.
Die Songs, die auf diese Weise entstehen, werden gesammelt und voraussichtlich im März gegen eine Spende als digitales Album angeboten. "Der gesamte Erlös geht dann an den gemeinnützigen Verein für interkulturelle Musik IKUMU", berichtet der 25-Jährige.
Die Idee wurde in der Not geboren, wie Lehmann schildert. "Unser normales kulturelles Engagement können wir im Moment ja nicht durchführen." Im Sommer habe man wenigstens ein Open-Air-Filmangebot machen können. Jetzt, während des Winter-Lockdowns, sei selbst das nicht möglich. "Wir haben deshalb zusammen überlegt, was für ein Angebot wir stattdessen machen können", sagt er. "Natürlich mussten wir erst einmal an die Orte denken, wo wir uns sonst gerne aufhalten." Ein Gedanke war, wie still es dort gerade sein muss. Der nächste, dass aus dieser Stille etwas entstehen kann.
Benjamin Matern und Felipe Lehmann. Foto: Nadine TressDas scheinen einige Musiker aus Heidelberg und Umgebung genauso zu sehen. Man habe bereits Stücke zugesendet bekommen, in denen die aufgenommenen Geräusche verarbeitet wurden, berichtet Lehmann. "Bisher handelt es sich hauptsächlich um elektronische Musik. Mal sind die Geräusche deutlich erkennbar, in anderen Fällen wurden sie bearbeitet und mit Effekten versehen." Vom Besen, der dumpf über die leere Bühne schabbert, bis hin zu dem Flatschen von Schritten im feuchten Wald: Felipe Lehmann ist gespannt, auf welche Weise diese Aufnahmen des Kollektivs weiter aufgegriffen werden. Einsendeschluss für alle, die sich vom Sound der Stille inspirieren lassen, ist der 31. Januar.
Info: Musiker können sich per Mail an fingerhut.kollektiv@web.de anmelden. Die Geräusche kann man sich hier herunterladen und anhören.