Von Jesper Klein
Heidelberg. Die ersten Momente wirken ein wenig tastend, der Weg scheint noch unbestimmt. Ihr Stück "Phosphor" finge so an, wie Albuquerque klingt, sagt Karola Obermüller über das für den Heidelberger Künstlerinnenpreis geschriebene Auftragswerk.
Mit 18 Jahren zog es die Komponistin in die Vereinigten Staaten, in ebenjene Stadt im US-Bundesstaat New Mexico. Für die Preisverleihung im mittlerweile 34. Jahrgang und die Uraufführung von "Phosphor" war Karola Obermüller nun beim 5. Philharmonischen Konzert im Theater Heidelberg zu Gast.
Auch wenn Karola Obermüller das Technische, Chemische, Biologische reizt – schon der Titel ihres neuen Stücks legt das nahe – ist ihre Musik keine berechnete. Nach dem sonoren Beginn gewinnt "Phosphor" bald an flirrender Fahrt, stets verankert im satten Streicherklang. Die formal klassische Wahl des Cellokonzerts mag zunächst überraschen. Doch der Solist Julian Steckel liefert im Dialog mit dem Philharmonischen Orchester unter der Leitung von Anu Tali die Motive und Klanggesten, mit denen das Stück arbeitet, so präzise und auf den Punkt, dass die Dramaturgie dieser lebendigen Musik mit rhythmischem Puls und perkussiven Anteilen zu keiner Zeit Fragen aufwirft. Ihre Musik "glüht in Farben und Stimmungen" heißt es in der schönen Laudatio von Egbert Hiller – die gleiche Aussage trifft auch auf "Phosphor" zu.
Neben der Preisverleihung stand das Konzert, das als Stream übertragen wurde, unter einer weiteren Flagge: der estnischen. So eröffnete die Dirigentin Anu Tali das Konzert am estnischen Nationalfeiertag mit der Musik eines Landsmannes: dem im Jahr 2000 verstorbenen Komponisten Lepo Sumera, dessen Klangsprache viele Stilrichtungen vereint. Sein Stück "Open(r)ing" diente hier als eine Art Ouvertüre. Ihr Fokus liegt mehr auf der Färbung des reduzierten Materials als auf seiner Entwicklung. Und kann man in den hier um einen A-Dur-Klang gebauten Quinten einen Funken Beethoven erkennen? Diese Musik lehre das Hören, sagte Generalmusikdirektor Elias Grandy zu Beginn des Konzerts.
Auch Intendant Holger Schultze wandte sich an das digitale Publikum. Mit dem Konzert und der Preisverleihung wolle er Hoffnung machen, dass es weitergehe. Mozarts "Linzer Sinfonie" beschloss den Abend dann klassisch – mit Schwung, Energie und Spiellust vorgetragen, sprechend bis tänzelnd im Schlusssatz. Auf das Liveerlebnis – das ist nicht neu – hätte man sich gefreut. Eine Preisverleihung ohne Applaus und Publikum bleibt merkwürdig.
Update: Donnerstag, 25. Februar 2021, 17.07 Uhr
Von Jesper Klein
Heidelberg. Die Verleihung des Heidelberger Künstlerinnenpreises an Karola Obermüller findet wie die Uraufführung des Auftragswerks "Phosphor" im Rahmen des 5. Philharmonischen Konzerts am Mittwochabend statt. Das Konzert beginnt um 20 Uhr und ist als Stream über www.theaterheidelberg.de zu sehen. Vorab sprach sie mit der RNZ.
Karola Obermüller. Foto: Tom HayesFrau Obermüller, die "New York Times" hat Ihre Musik einmal als "hyperkinetisch" beschrieben. Würden Sie dem zustimmen? Und wenn ja, was bedeutet das überhaupt?
Grundsätzlich ja. Und was das heißt? Sich um Bewegungsenergie drehend, vielleicht auch: von Bewegungsenergie inspiriert. In den Stücken, die ich komponiere, geht es immer wieder um Bewegungsenergie. Es fasziniert mich zum Beispiel, wenn ich Regentropfen am Fenster beobachte. Erst sitzen sie dort statisch, dann bewegt sich einer, der stößt wiederum den nächsten an. Und so weiter. Wenn man genau beobachtet, ist das sehr spannend.
Ihr neues Stück ist ein Auftragswerk, das im Rahmen des 5. Philharmonischen Konzerts uraufgeführt wird und trägt den Titel "Phosphor". Das klingt nach einem technisch-physikalischen Zugang zum Komponieren.
Ich habe herausgefunden, dass sich die Musik, die ich schreiben möchte, mit dem Physikalisch-Chemischen gut beschreiben lässt. Es gibt durchaus Dinge wie die Regentropfen, die ich in Klang nachzeichne. Konkrete Dinge werden durch die Musik aber viel weniger konkret. Es ist auch nicht so, dass ich chemische Formeln wälze oder tatsächlich Zahlen in Musik übersetze. Die Mathematik ist nie vordergründig. Bei "Phosphor" geht es um das Element, das in sehr kleinen Bestandteilen vorkommt, zum Beispiel als Teil der DNA. Man kann es mit einer Wolke von vielen kleinen Tönen vergleichen. Wenn man Phosphor erhitzt, geht es in einen anderen Zustand über. In der Musik wird da zum Beispiel der Tonraum verengt. Die Töne entsprechen für mich den herumschwebenden Atomen.
Warum ausgerechnet Phosphor?
Es ist eine Metapher. Phosphor taucht immer wieder in Artikeln im Zusammenhang mit der Klimakrise auf. Tatsächlich ist das Element nach bisherigen Forschungen auf die Erde beschränkt und eine Voraussetzung, die es für Leben braucht. Wenn wir auf einem anderen Planeten leben möchten, wird das zu einem echten Problem. Allgemein ist die Klimakrise ein Thema, das mich sehr beschäftigt.
Wenn Sie die Klimakrise ansprechen: Inwiefern ist Ihre Musik politisch?
Meine Musik ist recht oft politisch. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Kunst Stellung beziehen sollte, es aber nicht immer muss. "Phosphor" würde ich nicht als explizit politisch bezeichnen. Alles, was mich beschäftigt, findet sich in meiner Musik wieder. Das kann ich gar nicht vermeiden. Man muss nicht alle Stücke mit politischen Titeln bezeichnen, nur damit sie sich besser verkaufen. Wenn wir wache Künstler und Künstlerinnen sind, kommen wir um das Politische aber nicht herum. In Vokalwerken oder in Musiktheater findet es sich noch konkreter als in diesem Stück, dem kein Text zugrunde liegt.
Über "Phosphor" sagen Sie selbst: "Vielleicht ist die Musik der Anfang einer Art Liebesbrief an die Erde." Das kann man ja durchaus politisch auffassen, oder was meinen Sie damit?
Ich stehe vor dem Dilemma, dass ich hier komponiere, während um mich herum die Welt zusammenfällt. Wir machen unsere Arbeit, aber sie hilft unserer Situation nicht. Dass ich hier meine Stücke komponiere, ist dem Klima herzlich egal. Als Komponistin kann ich nur versuchen, mich damit auseinanderzusetzen. Klimaexpertin werde ich nicht mehr. Und Gleichgültigkeit oder Panik hilft uns noch weniger. Es ist wichtig, über die Zukunft der jetzt sehr jungen Menschen nachzudenken. Mich erfüllt das mit einer Mischung aus Traurigkeit und Dankbarkeit. Ich glaube nicht, dass wir die großen Krisen abwenden können; dass wir die Erde selbst zugrunde richten, ist eine Tragödie. Die Dankbarkeit darüber, dass wir diese Erde haben, hat mich dazu gebracht, von einem Liebesbrief zu sprechen.
In der Jurybegründung heißt es, dass das Wandern zwischen den Welten Ihren Weg bestimme. Was sind das für Welten und wie prägen sie Ihre Art zu komponieren?
Ich bin in Deutschland aufgewachsen und durch Reisen und andere Aufenthalte mit anderen Musikkulturen in Kontakt gekommen, zum Beispiel der indischen, japanischen, chinesischen. Das war für mich sehr bereichernd und hat mich so fasziniert, dass es zu einer ständigen Beschäftigung geworden ist. Wenn ich mich von A nach B bewege, kann ich neue Musik erdenken. Wenn ich an einem Ort sitze, fällt es mir schwerer. In den letzten Jahren bin ich zwischen verschiedenen Standorten gependelt, zuletzt hatte ich einen Arbeitsaufenthalt in Rom.
Fehlt Ihnen das in dieser Zeit dann besonders?
Ja. Mein Leben zwischen Europa und den USA passt mit der Fliegerei nicht wirklich zur Klimakrise. In der Pandemie ist es noch beschwerlicher. Der Austausch von Kulturen kann nur virtuell stattfinden, und es ist natürlich traurig, wenn man nicht vor Ort sein kann. Da geht viel verloren. Ich hoffe, dass wir bald zu diesem Austausch von Menschen und Kulturen zurückkehren können.
Wie wichtig ist eine Auszeichnung wie der Heidelberger Künstlerinnenpreis im männlich dominierten Klassikbetrieb?
Der Preis ist ein singulärer und wichtiger. Er ermöglicht Sichtbarkeit und ist ein Mittel, um den männlich dominierten Betrieb ein wenig aufzumischen. Aber natürlich braucht es mehr. Grundsätzlich sind die Welten der klassischen Musik sehr verschieden. In Italien oder Frankreich haben Komponistinnen immer noch einen schwereren Stand als in Deutschland. Ich bin vor 18 Jahren auch aus dem Grund in die USA gegangen, dass es hier in Deutschland recht zäh war; bei Aufführungen war ich die Exotin. Mittlerweile hat sich da aber vieles getan.