Auseinandersetzung mit dem Katholizismus: „Palmsonntag“ heißt diese Arbeit Anselm Kiefers aus dem Jahr 2007. Sie wird erstmals in Deutschland gezeigt. Foto: Rainer Diehl
Von Volker Oesterreich
Was für Joseph Beuys Fett und Filz waren, das sind für Anselm Kiefer die Materialien Asche und Blei, ergänzt um Naturprodukte wie Sand, Sonnenblumen und Mohnkapseln, aber auch Kunstharz oder Schellack. Daraus gestaltet der 1945 in einem Luftschutzbunker in Donaueschingen geborene Star der internationalen Kunstszene seine so wuchtigen wie vieldeutigen Formate: anspielungsreiche Skulpturen genauso wie reliefartige Bilder, die mit ihren Applikationen und schrundigen Oberflächen einen großen kulturgeschichtlichen Bezugsrahmen haben – vom alten Ägypten über Mesopotamien und Verweisen auf biblische Stoffe bis zu gesellschaftlichen Empörungswellen wie der Volkszählung Ende der 1980er Jahre. Sehr häufig gehören auch literarische und philosophische Werke zu Kiefers schöpferischen Echokammern, darunter Texte von Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Thomas Hobbes oder aus Schriften der Antike. So vermischen sich die Kunstwelten in einem ganz speziellen Kiefer-Kosmos.
In vier Räumen ihres Neubaus zeigt die Mannheimer Kunsthalle nun drei Werkgruppen des seit 1993 in Frankreich lebenden Künstlers. Noch darf die Sonderausstellung nicht fürs Publikum geöffnet werden, "aber wir hoffen, dass dies im März möglich sein wird", sagten Kunsthallen-Direktor Johan Holten und der per Video zugeschaltete Kurator Sebastian Baden am Montag beim ersten Rundgang für die Presse. Selbstverständlich werde dabei auf die Einhaltung der Sicherheits- und Hygienevorschriften geachtet.
Entstanden sind die nun präsentierten Werke in 30 Jahren; die frühesten schuf Anselm Kiefer noch während seiner Zeit im Odenwald, etwa "Die große Fracht" (1985-1995) mit dem applizierten Bleiflugzeug. Alle Arbeiten stammen aus der Sammlung des 2019 gestorbenen Bauunternehmers Hans Grothe. Teils befinden sie sich als Dauerleihgabe in Mannheim (können dort aber wegen der riesigen Formate nur in jeweils neu arrangierten Präsentationen gezeigt werden), teils im Franz-Marc-Museum in Kochel am See. "Beide Institutionen haben miteinander vereinbart, sich gegenseitig bei Ausstellungen mit Leihgaben zu unterstützen", erklärt der Kurator: "Unser Konzept haben wir noch mit Grothe und bei einem Besuch in Paris Anfang 2020 auch mit Kiefer abgestimmt."
Aus Anselm Kiefers Serie „Frauen der Antike“ (2006): Die Bleibücher auf dem Gipskleid wiegen 1,5 Tonnen. Foto: voeMan muss die Vergangenheit kennen, um die Gegenwart zu begreifen: Von diesem Gedanken sei Anselm Kiefer zutiefst überzeugt, ergänzt die Kunsthistorikerin Dorothee Höfert. In seinem Riesenformat "Lilith" oder in der noch monumentaleren Rauminstallation "Palmsonntag" greift Kiefer biblische Themen auf, verknüpft sie aber, speziell bei "Lilith", mit heutigen Fragen der Emanzipation. Das gedruckte Wort und der gedachte Gedanke werden von ihm in dreidimensionale Objekte verwandelt, dadurch erhalten sie eine große Intellektualität, häufig aber auch eine gewisse Düsternis wie beim "Verlorenen Buchstaben", für den Kiefer Teile einer ausrangierten Druckmaschine aus Heidelberg nutzte. Urdeutsch sind seine Themen, möchte man meinen. Man denke nur an die Monstrosität des Nibelungenlieds oder Stücke Heiner Müllers, die man ebenfalls mit Kiefers mythischer Weltenerkundung assoziieren kann.
Für die Skulptur „Der verlorene Buchstabe“ (2011-17) verwendete Kiefer auch Teile einer alten Druckmaschine aus Heidelberg."Gott und Staat", "Mann und Frau", "Tod und Stille" und "Himmel und Erde" lauten die gedanklichen Koordinaten der Ausstellung. Fast immer tangieren sie auch die Tabus der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die erwähnte "Volkszählung" (1987-1989) mit ihren Bleilamellen in einem eisernen Kasten und ihrer "Erbsenzählerei" von 60 Millionen erinnert an die Ängste, die eigene Individualität durch staatliche Verordnungen zu verlieren. Zu dieser Zeit nahm die Debatte um den Datenschutz so richtig an Fahrt auf. Statt der verwendeten Erbsen von damals müsste Anselm Kiefer heute künstlerisch recycelte Smartphones verwenden, um ähnliche Bedrohungsszenarien zu thematisieren.