Hartnäckig und experimentierfreudig
Von Milan Chlumsky
Heidelberg. "Ich wünsche mir sehr, dass die Fotografie, anstatt der Domäne der Industrie oder des Handels zugeschrieben zu werden, der Kunst zugehörig sei", sagte Mitte des 19. Jahrhunderts der französische Fotograf Gustave le Gray. Er experimentierte höchst erfolgreich mit seiner Sandwichtechnik, also der Verschmelzung zweier Negative auf einem Abzug: eins für die Landschaft (das Meer) und eins für den Himmel mit seinen Wolken. Die technische Entwicklung war noch nicht soweit, dass man die dunkle Landschaft und den hellen Himmel gleichzeitig auf einem Negativ fixieren konnte. Knapp 100 Jahre später sind diese Fotos mehr als eine Million Dollar wert – die Werke eines Amateurs im besten Sinne.
Der Berufsfotograf muss die Anforderungen seines Auftraggebers erfüllen, der Porträtfotograf muss sich an den Imperativen der Mode und des allgemeinen Geschmacks orientieren, der Zeitungsfotograf möglichst vollständig das aktuelle Geschehen dokumentieren. Zum Experimentieren bleiben wenig Freiräume. Der Amateur hingegen braucht keinen externen Forderungen zu folgen. Er hat die Freiheit, viele Versuche von ein und demselben Motiv aufzunehmen. Er kann mit Belichtungszeiten experimentieren, spezielle Chemiebäder vorbereiten oder andere Verfremdungstechniken anwenden. Die technischen Möglichkeiten sind schier unendlich, die Experimentierlust unbegrenzt.
Anders als bei Le Gray, der beim Nullpunkt begann, hat sich die Amateurfotografie längst zum Massenphänomen entwickelt. Absolut frei von irgendwelchen Beschränkungen wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts Neues ausprobiert, auch beispielsweise bei der russischen Propagandafotografie.
Ähnliches geschah auch in Deutschland, als man bewusst die Amateurfotografie neben die etablierten Strömungen stellte – etwa in Hamburg, wo der Direktor des Kunstmuseums Alfred Lichtwark mit der Ausstellung "Die Erziehung des Auges" schon 1893 die übliche Hierarchie vom Profi bis zum Amateur in Frage stellte. Gerade die Jahre vor der großen Wirtschaftskrise 1929 erwiesen sich als sehr produktiv, mit wichtigen Impulsen sowohl für die Bauhausfotografen wie für die Vertreter des Neuen Sehens und für die Arbeiterfotografien.
Diese drei Aspekte beleuchtet das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe im Band "Vom Bauhaus zu Instagram", dokumentiert in einer Neuerscheinung des Heidelberger Kehrer Verlags. Die ausgewählten historischen Beispiele bilden eine bemerkenswerte Reihe von Kontrapunkten zum Geschehen auf Instagram und Co, wo alles anstrengungslos geht. Oder zumindest so erscheint. Im Januar 2018 kam die Software "Face up" auf den Markt, mit der jedes Gesicht verändert werden kann, 80 Millionen Mal wurde sie heruntergeladen.
Der Bildband brilliert mit seinem historischen Exkurs und bestätigt vor allem eines: die Innovationskraft war eine Angelegenheit der Amateure, ihr Erfindungsreichtum war, dank des eigenen Willens und ihrer Experimentierfreudigkeit, erstaunlich. Hinzu kamen die in kein Korsett gepresste Neugier und auch die Hartnäckigkeit bei der Arbeit mit einer Vielzahl von Varianten, bis die richtige Ausdrucksform endlich gefunden war.
Info: Esther Ruels und Tulga Beyerle (Hg.): "Amateurfotografie – Vom Bauhaus zu Instagram". Deutsch/Englisch. Kehrer Verlag, Heidelberg, 208 S., 29,90 Euro.