Ein Tischgespräch der innigen Art während der "Steppenwolf"-Aufführung im Heidelberger Theater: Sheila Eckhardt als Hermine mit Marco Albrecht in der Rolle des Harry Haller alias Steppenwolf. Foto: Annemone Taake
Von Volker Oesterreich
Das Beste kommt zum Schluss, lautet eine Redensart. Sie stimmt nicht immer, aber im Fall des Heidelberger Spielzeit-Endspurts mit Herrmann Hesses dramatisiertem "Steppenwolf" spricht viel dafür. Der von Bernadette Sonnenbichler inszenierte Abend gehört sicher zu den Höhepunkten der Saison, und man kann davon ausgehen, dass der Name der Düsseldorfer Hausregisseurin bald vielerorts einen guten Klang haben wird.
Hesses Roman ist seit seiner Erstveröffentlichung 1927 Kult. Erst entdeckte ihn die Wandervogel-Bewegung für sich, dann wurde er für die Generation der 68er zum literarischen Leitbild eines selbstbestimmten Lebens. Weltweit. Sogar eine Rockband benannte sich nach "Steppenwolf": "Born To Be Wilde" hieß deren bedeutendster Titel, entstanden im Jahr der Studentenrevolte.
Harry Haller, der Held des Romans, ist natürlich das alter ego des Autors. Dafür sprechen nicht nur die identischen Initialen, sondern auch das Lebensalter eines 50-jährigen geschiedenen Mannes, der mit sich selbst hadert, mit Selbstmordgedanken spielt und das Wölfische, das Animalische in sich entdeckt, obwohl er doch ein vom Intellekt geleiteter Schriftsteller ist. Als Hesse den Roman schrieb, war die Vokabel "Midlife-Crisis" noch nicht in aller Munde, aber das Phänomen selbst ist sehr wohl Thema des Buchs. Sein zweites, noch wichtigeres Thema ist der Akt der Selbstbefreiung.
Harry Haller, der sich selbst als Steppenwolf im Bühnenspiegelbild zu erkennen glaubt, sucht wie eine Faust-Figur des 21. Jahrhunderts nach Ablenkungen und neuen Erkenntnissen. Hirn und Hedonismus bilden seine Daseinspole. Oder salopper gesagt: Geist und Geilheit. Sein Gretchen heißt Hermine, und seine Walpurgisnacht erlebt der Steppenwolf im ominösen "Magischen Theater". Es ist ein Ort der Bewusstseinserweiterung und des Rausches, "der Eintritt kostet den Verstand".
Das "Magische Theater" steht für die sexuelle Befreiung Steppenwolfs mit der ephebenhaften Hermine und der zupackenden Maria. Es steht aber auch für anarchistische Fantasien bis hin zu Gewaltexzessen und dem Ritualmord an der Geliebten.
In dieser Sphäre entdeckt der von etlichen inneren Mächten getriebene Steppenwolf die schier unendliche Vielschichtigkeit seines Wesens. Nicht nur zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust. Als Schriftsteller will Harry Haller die Kulturgrößen Goethe und Mozart für sich vereinnahmen, zugleich beansprucht er auch die Sphären des Jazz und des Entertainments aus dem gerade erfundenen Radioapparat für sich. Er ist ein Universalist, der aus dem Bürgertum kommt, aber die Grenzen seiner Bürgerlichkeit unbedingt überschreiten will. Gerne auch im Verein mit Goethe und Mozart, die für kurze Momente als kauzige Karikaturen über die Bühne trollen und rollen. Mit gutem Recht, denn auch in ihnen steckt Wölfisches, sogar in ihren Vornamen.
Die Inszenierung zieht die Zuschauer geschickt ins "Magische Theater". Das gelingt gleich mit dem ersten Auftritt der fünf Darsteller, die sich mit Trenchcoats (Kostüme: Tanja Kramberger), Stehlampe, Köfferchen und Topfpflanze wie zu spät kommende Besucher durch die Reihen zwängen, bevor sie die Bühne erklimmen. Schon dabei fliegt dem Quintett die Publikumssympathie zu. Die Video-Projektionen Hannah Dörrs, der Drehbühnen-Einsatz und die durch Folien oder halbtransparenten Gazestoff gestalteten Räume (Bühnenbild: David Hohmann) machen die Innenwelten des Denkers Harry Haller und das im Roman enthaltene "Traktat" sichtbar.
Marco Albrecht spielt die Hauptrolle so versiert, dass man ihn sich auch als Faust oder Mephisto vorstellen könnte. Sheilia Eckhardt ist eine faszinierende Hermine, mal kokett, dann wieder geheimnisvoll erotisch. Katharina Quast strahlt als Maria die derberen Facetten der Sinnlichkeit aus. Und das Gespann Raphael Gehrmann und Fabian Oehl beherrscht sowohl die artistischen wie auch die abgründig-gefährlichen Seiten des stets auch humorvollen Spiels.
Ach ja, und ein echter Falke ist auch noch mit von der Partie. Ein bestens trainierter Flattermann. Da sage noch einer, die im Theater hätten keinen Vogel! Der lautstarke Beifall ist mehr als verdient, und man darf hoffen, dass diese Produktion auch noch in der nächsten Spielzeit zu sehen sein wird.