Wenn in Mannheim der Autofahrer macht, was er will
Der Oberbürgermeister spricht im Jahresinterview über den Verkehrsversuch, die Energiekrise, die Uniklinik und das Stadion.



(59) Oberbürgermeister von Mannheim
Von Olivia Kaiser und Alexander Albrecht
Mannheim. Ganz oben auf dem MVV-Hochhaus sind die Themen unserer Zeit geradezu spür- und greifbar. Die Energiefrage und der Klimawandel treiben neben dem Konzern natürlich auch Oberbürgermeister Peter Kurz (59; SPD) um. Und das ist längst nicht alles – reichlich Stoff für das schon traditionelle Jahresinterview mit der RNZ.
Herr Dr. Kurz, wir haben in den vergangenen Jahresinterviews immer sehr theoretisch über Corona gesprochen. Vor Kurzem hat es Sie ganz praktisch erwischt. Wie ist es Ihnen ergangen?
Muss man nicht haben. Das war zwar alles noch im Spektrum "leichter Verlauf", aber das heißt dann eben trotzdem, drei Tage im Bett zu liegen und auch danach das Gefühl zu haben, in seiner Leistung eingeschränkt zu sein. Und diese Leistungseinschränkung hat unterm Strich bestimmt zwei bis drei Wochen angehalten.
Die Infektionszahlen explodieren, dennoch leben wir alle relativ normal. Was glauben Sie, was im Herbst und Winter auf uns zukommt?
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Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem jetzigen Verhalten und der Situation im Herbst oder Winter. Die Frage ist eher, wann man und wie stark man Maßnahmen anpassen muss. Wenn keine grundlegend andere Variante auftritt, damit die individuellen gesundheitlichen Folgen so sind wie im Moment, und auch kein spezieller Impfstoff angeboten wird, der Infektionen und Infektiosität verhindert, dann gibt es schon rechtlich für Maßnahmen relativ wenig Raum. Man wird im Wesentlichen darauf setzen müssen, dass sich die Menschen vernünftig verhalten, was sie ja zu einem großen Teil auch tun.
Das heißt?
Die Maske wird da das A und O sein, Home-Office und eventuell eine Impfkampagne, wenn ein neuer Impfstoff noch rechtzeitig kommt. Sinnvoll ist aber auf jeden Fall, Maßnahmen aus dem alten Infektionsschutzgesetz vor Ort zu ermöglichen, um auf neue Situationen reagieren zu können. Ein pauschaler Ausschluss von Maßnahmen im Vorhinein ist ja rational gar nicht zu begründen.
Bleiben wir beim Thema Gesundheit. Sie haben sich eine Fusion der beiden Uniklinika Mannheim und Heidelberg gewünscht. Jetzt soll es einen engen Verbund geben. Warum hat das Land nicht auf Sie gehört?
Zum einen sah das Land formale Hürden. Um auf die Mittel des Krankenhausfinanzierungsgesetzes zurückgreifen zu können, hätte man eine gesetzliche Regelung gebraucht. Das wäre mit Blick auf die Finanzverteilung zwischen Land und Kommunen nicht ganz einfach gewesen. Eine andere Möglichkeit, die Neue Mitte unserer Uniklinik zu bezuschussen, hat man politisch nicht gesehen. Zum anderen hat im Ergebnis die Sorge vor unabsehbaren finanziellen Lasten dominiert. Das müsste ausgeräumt sein. Denn nun besagen die vom Land beauftragten wirtschaftlichen Untersuchungen, dass man mit einer gemeinsamen unternehmerischen Führung Geld spart und die Betriebsergebnisse erheblich verbessert. Das ändert jetzt nichts mehr an der Entscheidung zum Verbund als ersten Schritt, setzt aber das Ziel, an dem sich der Verbund messen lassen muss.
Wissenschaftsministerin Theresia Bauer hat im Landtag dem Verbund eine hohe Priorität eingeräumt. Welche Schritte erwarten Sie in den nächsten Monaten?
Wir brauchen eine gemeinsam getragene Konzeption, wie der Verbund aussieht. Grundlage dafür sind Verhandlungen, die noch nicht begonnen haben. Ich halte eine Entscheidung innerhalb weniger Monate für zwingend, da auch der Landtag sicher wissen will, was eigentlich der Gesamtrahmen ist, wenn notwendiges weiteres finanzielles Engagement beschlossen werden muss. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Sie gehen also davon aus, dass das Land weiterhin die Verluste des Klinikums trägt, obwohl es in städtischer Trägerschaft bleibt?
Ein Ausgangspunkt war ja, dass die für das Land als notwendig und sich dynamisch entwickelnde Universitätsmedizin nicht von der Stadt weiter allein getragen werden kann. Es besteht insbesondere eine Notwendigkeit, die – abnehmenden – Verluste bis 2029 zu decken. Die Untersuchungen des Landes gehen davon aus, dass der Verbund bis 2030 auch ohne den Klinikneubau ein ausgeglichenes Ergebnis erreichen kann. Bis dahin soll auch die Neue Mitte fertiggestellt sein. Das heißt: Mit den positiven Effekten des Neubaus verbessern sich die Zahlen ab dann noch einmal deutlich. Insofern muss man darüber reden, wie man die Strecke bis 2030 so gestalten kann, dass es zu keinen Schäden im wissenschaftlichen Bereich, ökonomisch und vor allem bei der Patientenversorgung kommt.
Was ging Ihnen am 24. Februar dieses Jahres durch den Kopf?
Sie meinen den Kriegsausbruch in der Ukraine?
Ja.
Ich war schockiert und konsterniert. Ich hatte nicht mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine gerechnet, trotz des Truppenaufmarsches, schon gar nicht mit der Massivität, dass es sich nicht nur um einen begrenzten Konflikt um den Donbass handelte, sondern um einen Marsch auf die Hauptstadt und einen Überfall insgesamt auf die Ukraine. Es hat ein paar Tage gedauert, um die Dimension des Ganzen zu realisieren und vor allem zu erkennen, dass wir es hier mit einem völkisch-nationalistischen Denken zu tun haben, das an das frühe 20. Jahrhundert anknüpft. Das war außerhalb meiner Vorstellungskraft.
Viele Geflüchtete sind nach Mannheim gekommen. Wird es gelingen, die Menschen dauerhaft zu integrieren, sozial, im Job oder in der Schule?
Die Bevölkerung war noch einmal aufnahmebereiter als bei der letzten Flüchtlingskrise und hat sich sehr stark engagiert. Ansonsten wäre die Situation nicht zu bewältigen gewesen. Die Perspektiven einer Integration sind gut: Nach unseren Daten haben 90 Prozent der Geflüchteten, und das sind überwiegend Frauen, zumindest in Teilzeit gearbeitet und waren in irgendeiner Weise berufstätig. Sie wollen zwar zurückkehren, gleichzeitig hier aber ein selbstständiges Leben führen und nicht dauerhaft von Hilfsangeboten abhängig sein. Zwar sind die sprachlichen Voraussetzungen schlechter als erhofft, aber die Motivation, das rasch zu ändern, ist hoch.
Corona und der Krieg setzen die Politik unter Zugzwang. Wie lässt sich da noch Stadt gestalten?
Die großen relevanten Themen sind nicht abgemeldet und werden weiterbearbeitet. Aber wir haben Schwierigkeiten im Bereich der unmittelbaren Serviceleistung. Hier geht es uns wie anderen Dienstleistern: Kräfte werden woanders gebraucht. Wir haben einen erhöhten Krankenstand oder auch Menschen, die sich wegen der langen Krisen-Situation erschöpft fühlen. Zudem haben wir zunehmend Schwierigkeiten, Personal zu finden. Auf der anderen Seite haben der Wunsch nach Hilfe und die Erwartungen der Bevölkerung daran in vielen gesellschaftlichen Feldern zugenommen.
Ein Beispiel, bitte.
Nehmen Sie die Kinderbetreuung mit baulichen, organisatorischen oder personellen Themen. Da gibt es nicht ein Jota weniger Erwartung, sondern eher mehr. Ein anderes Beispiel: Ende 2021 hatten wir 40 Prozent mehr Müll im öffentlichen Raum als 2019, im Wald waren es 100 Prozent. Umfragen zeigen uns, dass die Zufriedenheit mit Verwaltungsdienstleistungen im Allgemeinen deutlich abgenommen hat. Das geht mir ja selbst so, wenn ich etwa als Kunde auf die Bahn schaue, obwohl ich weiß, dass die Zeiten schwierig sind.
Die Energiekrise bereitet vielen Menschen Sorgen. Ist das der Grund, warum Sie sich das MVV-Hochhaus als Ort für unser Gespräch ausgesucht haben?
Dafür gibt es gleich zwei Begründungen. Die erste ist die größte aller Krisen, die Klimakrise, die geht ja nicht weg. Oder noch umfassender: die ökologische Krise. Neben dem Klima können Sie die Biodiversität auf den gleichen Rang setzen. Ihre Bedrohung ist ähnlich existenziell und dramatisch. Die MVV ist für den Teil der Dekarbonisierung und der Transformation in Richtung Klimaneutralität der zentrale Akteur in der Stadt. Zweitens: Die MVV zeigt, dass gewisse historisch gewachsene Strukturen uns ein Stück weit sicherer und resilienter machen. Über 60 Prozent Fernwärme sind in Zeiten der Gaskrise ein Sicherheitssignal.
Der nächste Winter kommt, womit sich zwei Fragen stellen: Was kann die Stadt tun, um Not zu lindern, und fürchten Sie, dass es wegen des Gasmangels zu sozialen Verwerfungen kommt?
Beim Eintritt einer Gasmangellage sind möglicherweise schwierige gesellschaftliche Konflikte zu bewältigen. Das würde zwar vorrangig den industriellen und gewerblichen Sektor treffen, aber auch daran hängen Existenzen und Arbeitsplätze. Es gäbe in diesem Fall kaum kalkulierbare Folgen für die Versorgung mit wichtigen Gütern. Deswegen muss die klare Botschaft lauten: Alles tun und Energie sparen, um eine Gasmangellage zu vermeiden. Die Energiepreise und die Inflation sind darüber hinaus ganz klar eine soziale Herausforderung. Wir müssen unsere Hilfe auf den Teil der Bevölkerung fokussieren, der an seine Grenzen kommt. Das ist kein kleiner Teil der Bevölkerung, ich gehe von mindestens 30 rozent aus, der Unterstützung braucht. Da ist der Bund gefragt. Und es geht eigentlich nur über Direkthilfen, zum Beispiel über ein erweitertes Wohngeld. Bauchschmerzen bekomme ich bei allen Entlastungsdiskussionen, die sich um das Thema Steuern drehen. Da wird mit der Gießkanne dort gegossen, wo es noch ziemlich feucht ist.
Das Klima spielt auch in die Mobilitätswende mit rein. Beim Verkehrsversuch gibt es ein undurchsichtiges Stimmungsbild: teils heftige Kritik von Unternehmen und viel Lob von den Anwohnern. Hat es sich gelohnt oder würden Sie das Experiment heute anders machen?
Ich sehe in der Frage keinen Widerspruch. Die Konzeption muss insgesamt nicht angepasst werden, wohl aber im Detail, bis hin zu einzelnen "Noppen" auf der Straße. Als ich die ersten Einbauten gesehen habe, habe ich mir schon gedacht, dass das nicht reichen wird. Noch vor 30 Jahren konnte man beruhigt davon ausgehen, dass sich 99 Prozent an die Regeln halten. Nun zeigt sich: Wo er nicht physisch gehindert wird, macht der Autofahrer, was er für richtig hält und was er will. Da fahren welche an der Kunststraße über einen Fußgängerüberweg mit grüner Ampel für die Passanten. Man muss also fast jeden Tag nacharbeiten. Es stimmt: Man hätte im Vorfeld mehr Zeit in die Klärung von Fragen bei der operativen Umsetzung und die Kommunikation investieren müssen. Wer weiß als Auswärtiger schon, wo P1 und Q1 ist.
Aber ...
... unterm Strich aber lohnt sich der Versuch. Die Diskussion hat sich deutlich versachlicht, und die positiven Effekte sind spürbar. Ich sehe deutlich mehr Radfahrer und die Bürgersteige sind voll. Natürlich sind Menschen, die mit dem Auto aus dem Odenwald kommen, nach wie vor willkommen. Wir wollen aber Mannheimer, die nahe der Innenstadt wohnen, dazu motivieren, das Rad zu nehmen oder zu Fuß zu gehen, nahe bei oder in Mannheim Wohnende den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen. Umstiege sind kein Verlustgeschäft, sondern ein Gewinn an Lebensqualität.
Ist die Einkaufsstadt auch noch ohne Kino auf den Planken lebendig?
Dass Leinwände reduziert werden in Mannheim scheint unabwendbar. Unternehmerisch ist es auch nachvollziehbar, dass das Cineplex-Kino im kommenden Jahr schließt. Aus stadträumlicher Sicht ist das aber deutlich schmerzhafter, als wenn die Leinwände in N7 (Cinemaxx, Anm. d. Red) aufgegeben worden wären, zumal hier potentielle Nutzer wie die Musikhochschule benachbart sind.
Ludwigshafen kommen der Neu- und Umbau der Hochstraße teuer zu stehen. Kann die Region die Stadt damit im Regen stehen lassen?
Die klassische Stadtinfrastruktur hat meist regionale und überregionale Funktionen zu erfüllen. Die Dimension in Ludwigshafen ist aber außergewöhnlich und die Baulast lag früher auch nicht bei Ludwigshafen. Zudem müssen sich angesichts der Bedeutung der Metropolregion Rhein-Neckar als einer der größten Wirtschaftsräume in Deutschland, Bund und Land der Verantwortung stellen. Das haben sie mit den ursprünglichen finanziellen Zusagen auch gemacht, und das muss jetzt auch für die beträchtlichen Mehrkosten, die ja nicht Ludwigshafen zu verantworten hat, gelten. Als Region unterstützen wir die berechtigte Forderung der Stadt Ludwigshafen nach Dynamisierung der Zuschüsse. Ein regionales Umlageverfahren würde dagegen Systematik sprengen und wird auch nicht gefordert.
Sie wollen gemeinsam mit dem SV Waldhof die Frage lösen, ob das Carl-Benz-Stadion aufwändig saniert und umgebaut wird oder ob ein Neubau an anderer Stelle sinnvoller ist. Sind Sie da tatsächlich völlig offen oder haben Sie eine Priorität?
Klar ist von unserer Seite, dass die baurechtlichen Beschränkungen des Carl-Benz-Stadions auch an einigen der diskutierten Alternativstandorte wohl auftreten würden. Wir sind uns einig: Den Standort aus der Hand zu geben, setzt voraus, dass man mehr hat als die Taube auf dem Dach. Das ist die Grundhaltung, die aber nicht sagt, dass es ausgeschlossen ist, dass wir eine bessere Lösung finden. Nach Einschätzung des Clubs wird es im Carl-Benz-Stadion baulich sehr schwierig, einen VIP-Bereich zu schaffen. Auch das wollen wir gemeinsam überprüfen.
In knapp einem Jahr beginnt die Bundesgartenschau. Wird alles fertig?
Wir sind noch im Zeitplan, wobei man die Pandemie sehen muss, die Folgen des Krieges für die Materialbeschaffung und dass wir das Gelände erst zwei Jahre später als geplant von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben bekommen haben. Ich bin aber nach wie vor optimistisch. Die österreichische Firma Doppelmayr baut beispielsweise die Seilbahn selbst und ist kaum abhängig von den Lieferketten. Der Buga-Steg ist schon zu zwei Dritteln auf dem Gelände. Besonders im Fokus steht die U-Halle als Zentrum der Gartenschau. Die muss unbedingt fertig werden. Hier ist es nun gelungen ein engagiertes und kompetentes Bauunternehmen als Auftragnehmer zu finden und die Arbeiten gehen mit hohem Tempo voran.
Viele von Ihnen angestoßene Projekte werden erst in den nächsten Jahren fertig. Wenn Sie die Bändchen durchschneiden wollen, müssen Sie bei der OB-Wahl 2023 wieder kandidieren. Haben Sie sich schon entschieden?
Nein. Das, was Sie ansprechen, ist wahrscheinlich nur das kleinste Sandkorn auf der Waage (lacht).
Dann fragen wir anders: Wann wollen Sie sich entschieden haben?
Lange Wahlkämpfe sind für das Funktionieren der Stadt eher eine Belastung. Da ist es besser, wenn man das einigermaßen kompakt hält. Ich denke, es reicht für alle Beteiligten, wenn ich mich ein halbes Jahr vorher erkläre.
Von welchen Faktoren machen Sie sich das abhängig? Von der Familie, Gesundheit, Lebenszeit oder einer beruflichen Alterative?
Ja (lacht). Von der Frage der Alternative am wenigsten. Der Maßstab ist für mich, mit der Entscheidung später nicht zu hadern. Natürlich spielen auch private Dinge eine Rolle. Und 60 ist nicht 50.



