Eppelheim

Um 4 Uhr kam die Polizei und die kurdische Familie wurde abgeschoben

Sie galt in Eppelheim als gut integriert - Vor Gewalt und Diskriminierung aus der Türkei geflüchtet

23.09.2020 UPDATE: 25.09.2020 06:00 Uhr 2 Minuten, 54 Sekunden
Hier war die Welt noch in Ordnung, nun sind sie zurück in der Türkei (v.l.): Gülay, Alieren, Ersoy und Ataberk Gürel bei einem Familienausflug in der Region Heidelberg. Foto: privat

Von Lukas Werthenbach

Eppelheim. Die Schultüte des siebenjährigen Alieren Gürel liegt schon bereit, die Vorfreude auf seinen großen Tag in der Friedrich-Ebert-Schule ist riesig. Doch wenige Tage vor der Einschulung, morgens um 4 Uhr, stehen plötzlich sechs Polizeibeamte vor der Tür. Sie nehmen Alieren, seinen fünfjährigen Bruder und die Eltern der beiden mit: Die Familie wird noch am gleichen Tag in die Türkei abgeschoben. Beide Eltern haben bis dahin hier eine feste Arbeit, bezahlen ihre Miete selbst, die Kinder sprechen fließend Deutsch – und im Heimatland befürchtet die kurdische Familie alevitischen Glaubens Diskriminierung und Gewalt. Die repressive Politik des türkischen Präsidenten Erdogan bekamen die Gürels nach eigenen Angaben auch schon am eigenen Leib zu spüren.

"Sie kamen Anfang 2018 zu viert nach Deutschland, weil sie in der Türkei wegen ihres Glaubens sehr drangsaliert wurden", berichtet Hildegard Lacroix von der Eppelheimer Flüchtlingshilfe. Familie Gürel gehört zu den zahlreichen Asylbewerbern, die die Ehrenamtliche gemeinsam mit weiteren Engagierten wie Gudrun Meybier und Wolfram Schmittel oft über viele Jahre im Alltag begleitet.

Lacroix und Schmittel wandten sich nach diesem für sie niederschmetternden Erlebnis an die RNZ. "Juristisch ist diese Abschiebung absolut in Ordnung", weiß Lacroix, "aber kann man denn bei solchen Fragen nur nach dem Gesetz gehen?", fragt sie, wenige Tage nach der Abschiebung noch spürbar betroffen. "Gibt es nicht auch eine Moral und menschliches Ermessen?" Nachdem die Ehrenamtlichen das Schicksal und die offenbar gelungene Integration dieser Familie erläutert hatten, konfrontierte die RNZ das Landesinnenministerium mit dem Fall.

Hintergrund

Gericht wies Klage von Familie ab - Ministerium bleibt vage

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Gleich bei ihrer Ankunft in Deutschland stellte Familie Gürel einen Asylantrag. Als im türkischen Istanbul lebende Kurden alevitischen Glaubens hofften sie hierzulande auf eine Anerkennung als Flüchtlinge. Sie schilderten dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihre Erlebnisse, wonach sie in ihrer Heimat wegen ihres Glaubens und der politischen Einstellung ihrer Verwandten wiederholt beschimpft, ausgegrenzt und sogar geschlagen worden seien.

Doch der Antrag auf Asyl wurde bereits 2018 abgelehnt, wogegen die Familie vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe klagte. Die Klage jedoch wurde abgewiesen. Der RNZ liegen Auszüge des entsprechenden Urteils vom März dieses Jahres vor. "Schutz (...) kann nur derjenige beanspruchen, der Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat", heißt es darin unter Verweis auf die "Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft" nach dem Asylgesetz. So stellte das Gericht fest, dass in der Türkei "alevitische Häuser" zwar "immer wieder mit abfälligen oder türkischnationalistischen Parolen beschmiert" würden und "Übergriffe auf Aleviten oder nicht muslimische Vertreter vereinzelt" stattfänden. Jedoch sei "die Zahl der tätlichen oder gar tödlichen Übergriffe aus religiösen Motiven rückläufig", heißt es in der Begründung weiter. Die Feststellung, dass die Familie zudem nicht "subsidiär schutzberechtigt" sei, erklärte das Gericht so: "Den Klägern droht in der Türkei nicht die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe."

Angesichts der zahlreichen Beschreibungen der Familie Gürel als "gut integriert" einerseits und ihrer diskriminierenden Erlebnisse in der Türkei andererseits fragte die RNZ beim baden-württembergischen Innenministerium nach, wo auch über das Härtefallgesuch entschieden worden war. Dort bittet man allerdings um Verständnis, "dass aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Angaben zum konkreten Einzelfall gemacht werden können". Ministeriumssprecher Dominik Schuler erklärte das Vorgehen bei der "zwangsweisen Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer" mit gesetzlichen Voraussetzungen, die "eine individuelle Prüfung" vorsähen, "ob die konkrete Situation eine Abschiebung zulässt oder ob aus humanitären Gründen eine Legalisierung des Aufenthalts erfolgen kann".

Auf die Frage, in welchen Fällen allgemein türkische Asylbewerber überhaupt eine Chance auf eine dauerhaften Verbleib in Deutschland hätten, sagte Schuler: "Es können keine pauschalen Angaben gemacht werden, wann abgelehnte Asylbewerber mit türkischer Staatsangehörigkeit eine Duldung oder ein Bleiberecht erhalten können. Es bedarf hier stets einer Einzelfallprüfung." Offenbar überzeugte der "Einzelfall" der Familie Gürel das Ministerium nicht ... (luw)

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"Die Kinder wurden im türkischen Kindergarten misshandelt, sie kamen mit blauen Flecken nach Hause", berichtet Lacroix über einen der Gründe, warum die Familie vor über zwei Jahren ihre Heimat in Istanbul verlassen habe. "Die Jungs hatten Angst, wieder in den Kindergarten zu gehen." Daher sei Vater Ersoy mit den Kindern zur Polizei gegangen. "Die Beamten dort wollten aber gar nicht wissen, was mit den Kindern passiert war, sondern haben den Vater nur nach dessen Verwandtschaft gefragt, weil sich aus der Familie einige politisch in der Opposition engagieren", erzählt die 68-Jährige. Demnach habe eine Angehörige bereits "wegen ihrer politischen Einstellung" im türkischen Gefängnis gesessen. "Und der Mutter wurde schon auf offener Straße an den Haaren gezogen, weil sie kein Kopftuch trug", fügt Lacroix hinzu.

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In Eppelheim hingegen fühlte sich die Familie wohl. Der 41-jährige Ersoy spielte ebenso wie seine Söhne bei der DJK Fußball. Er arbeitete in Vollzeit als Spülkraft im Heidelberger Restaurant Grenzhof. Dessen Geschäftsführerin Ulrike Kugler-Oestergaard meldete sich nun mit einer emotionalen Nachricht bei der RNZ. Darin lobt sie Ersoy Gürel für "Fleiß und Motivation". Er sei "immer mehr als Kollege geschätzt und anerkannt" worden, die Abschiebung habe "Empörung" in ihrer Belegschaft ausgelöst. "Es ist unfassbar und lässt uns alle im Betrieb hier an den Grundrechten in unserem Land zweifeln", schreibt Kugler-Oestergaard.

Auch die 36-jährige Mutter Gülay galt in Eppelheim als gut integriert. Sie spricht laut Lacroix noch besser Deutsch als ihr Mann. "Sie hat sämtliche Deutschkurse und Prüfungen selbst bezahlt", erzählt die Ehrenamtliche. Allgemein habe die Familie ab dem Tag ihrer Ankunft in Deutschland klargemacht: "Wir wollen dem Staat nicht auf der Tasche liegen", so die 68-Jährige, "das war ihnen ganz wichtig." Zudem habe die Mutter ehrenamtlich für die Nachbarschaftshilfe gearbeitet, um "dem deutschen Staat etwas zurückzugeben", berichtet Lacroix.

Im Sommer hatte Gülay Gürel eine Ausbildung als Verkäuferin in Heidelberg angefangen – doch da war es schon zu spät, wie Familie und Ehrenamtliche erst hinterher erfuhren. Denn nachdem das Verwaltungsgericht Karlsruhe im Frühjahr die Klage der Familie gegen die Ablehnung ihres Asylantrags abgewiesen hatte, blieb laut Lacroix nur noch eine Chance, eine baldige Abschiebung zu verhindern: Ein Elternteil musste für eine sogenannte Ausbildungsduldung eine begonnene Lehre vorweisen. Den Ausbildungsvertrag schickten sie im August ans zuständige Regierungspräsidium, doch wenige Tage vor der Abschiebung kam Post: "Es ist zu spät, die abschiebenden Maßnahmen wurden bereits eingeleitet", fasst Lacroix die bittere Nachricht zusammen.

Nach diesem weiteren Rückschlag halfen die Ehrenamtlichen dabei, ein Härtefallgesuch einzureichen. "Alle, die die Familie kennen, sollten darin zu Wort kommen", sagt Lacroix. Sie berichtet etwa von einer "herzzerreißenden Stellungnahme" aus dem Fröbel-Kindergarten, den die Jungs immer gern besucht hätten. Doch letztlich half auch das nichts: Kurz darauf saß die Familie im Flugzeug. "Wir fahren zu Oma", sollen die Eltern dabei zu den Kindern gesagt haben. Tatsächlich sind die Gürels erst mal bei der Großmutter der Jungs in Istanbul untergebracht. Und den Ehrenamtlichen der Flüchtlingshilfe bleibt nur noch der Handy-Kontakt zu dieser lieb gewonnenen Familie.

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