Es gibt viele Gründe, Erdogan den Rücken zu kehren
3700 Türken haben in Deutschland Asyl beantragt, 96 sind im Patrick Henry Village registriert - Die RNZ zeichnet drei Schicksale nach

Das Patrick Henry Village in Heidelberg-Kirchheim. Foto: Rothe
Von Holger Buchwald
Drei Männer, drei Schicksale, doch sie haben eines gemeinsam: Mehmet A., Hasan D. (Namen geändert) und Lütfü Can Korkmaz sind vor wenigen Monaten aus der Türkei nach Deutschland geflohen. In der Kanzlei ihrer Heidelberger Rechtsanwälte Fidan und Memet Kilic berichten sie von ihren ganz unterschiedlichen Beweggründen, warum sie dem Erdogan-Regime den Rücken kehrten. 3700 türkische Staatsbürger haben laut Memet Kilic in Deutschland in letzter Zeit Asyl beantragt. Knapp 100 sind derzeit im Zentralen Registrierungszentrum in Patrick Henry Village gemeldet. Laut Memet Kilic kommen immer mehr von ihnen nach Deutschland.
Lütfü Can Korkmaz ist 24 Jahre alt, Koch und lebte in Istanbul. Er ist Alevit - neben politischen Gründen hat er also auch religiöse Motive für seine Flucht. Korkmaz hat das Glück, dass sein Vater ein Staatsbediensteter in Rente ist. Als Sohn hat auch er einen türkischen "Dienstpass". Das Privileg: Korkmaz konnte ohne Probleme nach Deutschland fliegen und auch ohne Touristenvisum einreisen.
Seit dem 14. Februar ist er nun hier. Er hat als einziger der drei Flüchtlinge keine Angst davor, mit vollem Namen und Foto in der Zeitung zu stehen. Als wichtigsten Asylgrund hat er angegeben, dass er nicht in die türkische Armee eingezogen werden möchte. Die Vorstellung, zwölf Monate beim Militär zu verbringen, ist für ihn grauenhaft: "Der Friedensprozess ist aufgekündigt, ständig geschehen Terroranschläge und täglich fallen Soldaten. Nur deren Familien trauern um sie. Für den großen Rest der Bevölkerung ist das Ganze nur eine Show." Eine Show, die Korkmaz auf keinen Fall unterstützen möchte.
Im Juni hatte Korkmaz seine Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Sein Asylantrag wurde inzwischen abgelehnt, die Kilics klagen gegen den Bescheid. "Statistisch gesehen, werden nur sieben Prozent der Asylbewerber vom BAMF anerkannt", zeigt sich Memet Kilic optimistisch: "Vor Gericht gehen jedoch 30 Prozent der Fälle durch." Das Problem bei dem 24-jährigen Türken ist, dass er - streng genommen - bereits in seinem Heimatland hätte den Kriegsdienst verweigern müssen, um bessere Chancen auf Asyl zu haben. "Doch wie soll das gehen, ohne sich in Gefahr zu begeben?", fragt Memet Kilic: "Das Ansehen des Militärs zu beschädigen, ist dort eine Straftat." Viele BAMF-Mitarbeiter seien zu schlecht geschult.
Korkmaz war schon bei den ersten Protesten gegen die Bebauung des Gezi-Parks auf dem Taksim-Platz in Istanbul dabei. Nachdem er von Polizisten zusammengeschlagen worden war und nachdem sich unter die Demonstranten auch Kriminelle gemischt hatten, die einfach nur Läden plündern wollten, zog er sich zurück. Sein Glück ist nun, dass er in Deutschland bei Verwandten in Mühlhausen untergekommen ist. Er war zunächst in Patrick Henry Village und ist inzwischen in einer Sammelunterkunft in Reilingen gemeldet. Dort lässt er sich aber nur alle zwei Tage blicken, um seine Post abzuholen. Am meisten schätzt er in Deutschland: "Die Ordnung, den Respekt voreinander und die Meinungsfreiheit."
Mehmet A. ist 24 Jahre alt und ebenfalls vor sechs Monaten in Deutschland angekommen - mit einem Touristenvisum. Mittlerweile sei es sehr viel schwerer für türkische Staatsangehörige geworden, solch eine Einreiseerlaubnis zu bekommen, berichtet Fidan Kilic: "Es wurden selbst schon Einladungen zu Hochzeiten in Deutschland abgelehnt."
Zuletzt studierte Mehmet A. in Istanbul Internationale Beziehungen. Er hat noch keinen Asylantrag gestellt, da er gerne in Deutschland Wirtschaftswissenschaften studieren würde. In der F+U-Sprachschule hat er schon mehrere Deutschkurse besucht und auch bereits das zweitbeste Niveau C1 erreicht. Bei seinem Visum gibt es allerdings momentan ein großes Problem: Die Kilics versuchen gerade mit allen Kräften, es in ein Studentenvisum umzuwandeln.
Streng genommen müsste A. zurück in die Türkei und dort einen neuen Antrag stellen. Doch er gilt als Sympathisant der Gülen-Bewegung, die von der Erdogan-Regierung als Drahtzieher des Putschversuchs von 2016 angesehen wird und deren Anhänger verfolgt werden. Mehmet A.s alte Schule, in die er bis zur achten Klasse ging, und die mit Gülen in Verbindung gebracht wird, ist bereits geschlossen. Sein ehemaliger Lehrer wurde als Gewerkschaftsmitglied verhaftet. Auch der 24-Jährige selbst fühlt sich in Gefahr. Schließlich lebte er als Student in einem Gülen-Wohnheim. "Früher war so etwas ganz normal", klärt Memet Kilic auf: "Es war die Chance auf kostengünstige Bildung." Was dem jungen Mann nach seiner Rückkehr blühen könnte, lässt sich nur erahnen: Seine Eltern hatten nach seiner Ausreise bereits unangenehmen Besuch von Männern, die nach ihm gesucht hatten. In Heidelberg, wo Mehmet A. bei seinem Onkel lebt, fühlt er sich hingegen sicher. Schade findet er unterdessen, dass er nicht die türkische Moschee in Edingen besuchen kann. Sie gehört zum erdogan-nahen Dachverband Ditib. "Als ich dort war, wusste ich nicht so recht, ob das ein Gebet sein sollte oder eine AKP-Veranstaltung." Die AKP ist die Regierungspartei Erdogans.
Hasan D. (28) spricht ebenfalls fließend Deutsch, denn er ist in Lahr (Ortenaukreis) aufgewachsen, lebte bis zu seinem zwölften Lebensjahr dort. Dann wurde die Familie ausgewiesen und zog nach Kahramanmaras, nahe der syrischen Grenze. Wie auch Hasan D. sind die meisten Menschen dort Kurden und Aleviten. "Junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren haben dort überhaupt keine Perspektive", klagt er. Nach seinem Buchhalter-Studium konnte er nur für kurze Zeit bei Verwandten in der Firma arbeiten. Bei offiziellen Bewerbungen haben Kurden und Aleviten laut Hasan D. keine Chance.
Seit 2014 war der junge Mann arbeitslos. Bis auf seine Zeit beim Militär. Hasan D. wurde ausgerechnet der Kaserne zugeteilt, deren Kommandanten als regierungskritisch eingestuft wurden. Sie sollen später den Putschversuch vorbereitet haben. Auch Hasan D. sieht das Erdogan-Regime sehr kritisch. Als die türkische Regierung nämlich in direkter Nachbarschaft zu seinem Heimatort anfing, Camps für syrische Flüchtlinge aufzubauen, glaubten die Einheimischen, dass dort ausschließlich islamistische Sunniten untergebracht würden. Die Aleviten in der Region fürchteten, dass sich die schrecklichen Ereignisse des Massakers 1978 wiederholen könnten. Zusammen mit Freunden demonstrierte er dagegen - und wurde prompt verhaftet.
Zwei Tage lang wurde Hasan D. im Gefängnis verhört. Er wurde nur freigelassen, weil er sich zum Schein als Spitzel anwerben ließ. Tatsächlich nutzte er aber die Gelegenheit, um seine Flucht vorzubereiten. 10.000 Euro zahlte er für ein gefälschtes Touristenvisum, das ihm die Schleuser direkt nach der Landung in Deutschland wieder abnahmen. Das Geld erhielt D. über Darlehen von Verwandten. Die Frage, wie er an das gefälschte Dokument kam, beantwortet er ausweichend: "Ich kannte jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt. Man muss nur die Richtigen fragen." Seine Anhörung beim BAMF wurde unterdessen gerade verschoben.