Mannheimer Neckarstadt

ZDF-Journalistin verteidigt ihre 37-Grad-Reportage

Güner Balci sagt: "Probleme kleinzureden, hilft niemandem" - Protagonisten der Doku sollen Ärger bekommen haben

23.07.2020 UPDATE: 24.07.2020 06:00 Uhr 4 Minuten, 33 Sekunden
Der hintere Teil der Mittelstraße ist Güner Balci als Brennpunkt besonders aufgefallen. Dort zweigt auch die Lupinienstraße ab, in der sich zahlreiche Bordelle befinden. Sie ist mit einer roten Metallwand abgetrennt. Foto: Gerold

Mannheim. "Absurd", "einseitig", "enttäuschend": Die Fernsehjournalistin Güner Balci hat für ihre "37 Grad"-Reportage im ZDF über die Neckarstadt-West und drei engagierte Protagonisten von Stadtvertretern und Kommunalpolitikern viel Kritik einstecken müsste. Im Interview weist sie die Vorwürfe zurück und greift Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) scharf an.

Frau Balci, Sie sind als Tochter türkischer Einwanderer und im Berliner Brennpunkt-Kiez Neukölln aufgewachsen. Ist die Situation dort mit der Neckarstadt-West vergleichbar?

Güner Balci. Foto: Jesco Denzel

Neukölln hat verschiedene Probleme. Organisierte Kriminalität, arabische Clans, aber auch das Erstarken eines rechten Milieus und islamistische Gemeinden sind nur einige. Armut, Bildungsferne und tradierte Wertvorstellungen findet man dort genau so, wie eine wachsende Zahl junger Leute, Kreative und Studenten, die aus der ganzen Welt einwandern, weil Neukölln mittlerweile auch ein sehr begehrter Stadtteil ist. Es gibt dort viele hoch engagierte Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte, die diese Probleme offen angehen und dafür bundesweit Anerkennung bekommen, wie zum Beispiel die Stadtteilmütter. Ich würde die Neckarstadt-West aber allein schon wegen des Größenverhältnisses nicht mit Neukölln vergleichen …

… aber …

… während in Neukölln der Bürgermeister nach der TV-Ausstrahlung eines Beitrags, in dem unter anderem gezeigt wird, dass eine Familie in einer Abriss-Immobilie wohnt, sich gleich darum bemüht hätte, die Familie besser unterzubringen, ist man in Mannheim damit beschäftigt, den Journalisten, der das in der Neckarstadt-West aufgezeigt hat, zu diskreditieren. Der Beitrag porträtiert drei besonders engagierte Menschen. Ich bin mir sicher, in Neukölln würde man stolz auf sie sein.

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Warum kommt in der Dokumentation niemand von der Stadt zu Wort?

Ein Vertreter der Stadt, der im Hintergrundgespräch viele der Probleme offen angesprochen hat, war am Ende nicht in der Lage, Kontakte zu aktiven, engagierten Menschen zu vermitteln. Die Absicht des Films aber war, eben genau diese Menschen zu finden und zu begleiten – nicht beschönigende Interviews von Politikern einzuholen. Das ist uns gelungen.

Der Referent des Oberbürgermeisters, Petar Drakul, meinte, ihre These vom "vergessenen Stadtteil" habe bereits vor den Dreharbeiten festgestanden. Haben Sie zu einseitig recherchiert?

Dieses Beleidigtsein wirkt auf mich infantil. Die Menschen, die aus Ost- und Südosteuropa in die Neckarstadt-West ziehen, sind arm und träumen von einem besseren Leben. Die Voraussetzungen dafür, dieses "bessere” Leben zu erreichen, sind offensichtlich schlecht. Die Menschen brauchen viel Unterstützung. Weder der Berater des Oberbürgermeisters noch eine Politikerin der Grünen, mit der ich viele Gespräche über den Stadtteil geführt habe, würden dort selbst leben wollen. Nicht weil es ihnen zu abgelegen ist, sondern, weil es die Armutseinwanderung aus Osteuropa gibt und diese dort so geballt ihre Probleme entfaltet. Ich sage, diese Menschen sind Europäer, sie haben ein Recht darauf, zu uns zu kommen. Wenn man aber die Probleme kleinredet, ist niemandem geholfen, schon gar nicht den Kindern, die ohne Deutschkenntnisse in die Schule kommen, oder jenen, die nicht erst in die Schule gehen.

Oberbürgermeister Peter Kurz selbst warf Ihnen vor, die Sendung sei ein "Zerrbild am Rande der Absurdität". Was antworten Sie ihm?

Ich kann nur hoffen, dass nach dem Ärger die Einsicht kommt und alle, die sich jetzt so über die Berichterstattung empören, die Ärmel noch ein bisschen mehr hochkrempeln und denen helfen, die es am nötigsten brauchen. Bisher hat die Stadt wenig bis gar nichts für die Frauen aus der Armutsprostitution getan. Wenn ein Betreiber mit einem einzigen Laufhaus in der Lupinenstraße allein über hunderttausend Euro an Miete im Monat bei den Frauen einnehmen kann, wenn eine bulgarische Prostituierte im Monat 200 bis 250 Männer "bedienen” muss, damit sie ihrer Familie am Monatsende 400 Euro schicken kann, dann sprechen wir von Ausbeutung und Menschenhandel. Wenn der Oberbürgermeister stattdessen behauptet, der Beitrag sei ein "Zerrbild am Rande der Absurdität” kann ich dem nur entgegenhalten, dass die Selbstdarstellung der Stadt in Bezug auf die Neckarstadt-West sich für Kenner des Stadtteils wie reine Satire liest.

Wir wissen, dass mindestens einer Ihrer Hauptprotagonisten wegen seiner Kritik an der Rathauspolitik Ärger mit der Stadt bekommen hat. Haben Sie ein schlechtes Gewissen?

Leider musste ich erfahren, dass die Protagonisten des Films im Nachhinein nicht nur heftige Kritik aus dem Umfeld des Oberbürgermeisters einstecken mussten, sondern jetzt auch erheblichem Druck ausgesetzt sind. Man hat in einem Fall zum Beispiel unmittelbar nach der Ausstrahlung des Beitrages die städtische Lebensmittelaufsicht vorbeigeschickt – für mich klingt das nach reiner Schikane. Ich habe aber großes Vertrauen in die Stärke der Protagonisten. Mir war sofort klar, das sind echte Kämpfer. Vorbilder für einen Stadtteil, in dem es sehr schnell sehr viel besser sein könnte, wenn es mehr solcher Menschen gäbe beziehungsweise die Stadt sich ein Beispiel an ihnen nehmen würde. Ich bin mir sicher, dass sie sich von ein paar unbeholfenen Einschüchterungsversuchen nicht unterkriegen lassen, und nein, ich habe kein schlechtes Gewissen, im Gegenteil. Ich sehe, dass der Zuspruch, den der Film und die Protagonisten in der Öffentlichkeit bekommen, die Kritik bei Weitem überragt.

Die Kritik entzündet sich auch daran, dass in den vergangenen Jahren einiges in kultureller und sozialer Hinsicht im Stadtteil bewegt worden sei. Haben Sie das nicht mitbekommen?

Dass zum Beispiel die Stadt viele Problemimmobilien aufgekauft hat, ist mir nicht entgangen. Wer diese Wohnungen am Ende bekommt, ist eine andere Frage. Natürlich gibt es auch soziale Projekte, die in meinem Film nicht vorkommen und die gute Arbeit leisten. Trotzdem bleibt das Problem der Neckarstadt-West ein strukturelles. Bunt bemalte Wände und eine Lichtmeile sind schön. Kunst- und Musikprojekte sind oft eine Bereicherung. Die Frage ist, für wen sind diese Projekte und wen erreichen sie? Sie alle haben gewiss ihre Berechtigung, aber dass ein Kunstprojekt etwas an der Situation von Armutsprostituierten ändert oder den benachteiligten Kindern nachhaltige Bildungserfolge ermöglicht, bezweifle ich. Tatsächlich habe ich bei meinen Recherchen festgestellt, dass diese Kunst-Kultur-Gesellschaft wie ein Paralleluniversum funktioniert, mitten im Brennpunkt, ohne große Berührung zu den Betroffenen. Die Probleme mögen für einige Studenten und Kreative kein Grund sein, um dem Stadtteil kritisch gegenüberzustehen. Ich frage mich, wie es wohl wäre, wenn Oberbürgermeister Kurz mal mit seiner Gattin auf ein Bier in eine dieser Kneipen gehen würde. Nicht offiziell, sondern einfach nur mal so privat, weil es ja so schön bunt ist.

Der Titel Ihrer Reportage "Zwei Quadratkilometer Stress" suggeriert, dass man sich in der Neckarstadt-West nachts nicht auf die Straße trauen kann.

Ein paar Tage nach Ausstrahlung des Beitrags gab es dort einen Leichenfund, vermutet wird ein Tötungsdelikt, einen Raubüberfall und eine Messerstecherei mit Todesfolge. Das allein in einer Woche Ich persönlich würde nicht behaupten, dass die Neckarstadt-West eine No-Go-Area ist. Sie ist aber kein Ort, an dem man Kinder gern allein auf den Spielplatz schickt. Die Wohnverhältnisse vieler Menschen sind miserabel. Auch der Müll, der einem seit Jahren an vielen Ecken begegnet, ist ein Zeichen schlechter Lebensverhältnisse. Im hinteren Teil der Mittelstraße gibt es fast nur Spielhallen und zwielichtige Bars, in denen unter anderem kriminelle Geschäfte laufen. Das sind übrigens Feststellungen der Polizei. Die wenigen "normalen” Einzelhändler und Dienstleister beklagen diese Zustände. Nachts begegnet man dort Prostituierten, Freiern und Gruppen von Männern, die in diesen Spielhallen und Bars abhängen oder solchen, die ihre auffällig teuren Autos spazieren fahren. Wer vor Ort recherchiert, erfährt, dass in den Lokalen auch minderjährige Mädchen anschaffen.

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