1899 Hoffenheim

Darum hinterlässt Julian Nagelsmann ein schweres Erbe

Anspruchsvoll, innovativ und exzentrisch - Kumpeltyp und Spielerbessermacher

20.05.2019 UPDATE: 21.05.2019 06:00 Uhr 3 Minuten, 13 Sekunden

Gemeinsam in einem Boot und fortan Konkurrenten: Julian Nagelsmann (5.v.l.) und Alfred Schreuder (7.v.l.) am 28. Juli 2016 im Hoffenheimer Trainingslager in Bad Häring. Beim Rafting in Kössen/Tirol packte das Betreuerteam kräftig mit an und hatte viel Spaß. Nächste Saison stehen sich Nagelsmann mit Leipzig und Schreuder mit "Hoffe" gegenüber. Foto: APF

Von Joachim Klaehn

Zuzenhausen/Heidelberg. Es hat ihn mit am meisten gewurmt, dass seine finale Mission nicht erfüllt wurde. Julian Nagelsmann (31), vom 11. Februar 2016 bis - offiziell - 30. Juni 2019 Cheftrainer beim Bundesligisten TSG 1899 Hoffenheim, wollte sich unbedingt mit der dritten Europapokal-Teilnahme hintereinander aus dem Kraichgau verabschieden.

Es hat nicht geklappt, weil der Mannschaft auf der Zielgeraden die Luft ausging und weil die TSG-Cracks über die gesamte Spielzeit gesehen 29 Punkte nach 13 verspielten Führungen liegen ließen. Hinzu kamen 27 Latten- und Pfostentreffer - zugleich die Höchstmarke der Liga.

Hätte, wäre, wenn, konjunktivische Kategorien helfen im Profisport nicht weiter. Deshalb hatte Nagelsmann nach dem 0:1 gegen Werder Bremen gesagt: "Ich bin kein Freund von Statistik." Diese sei etwas für die "altbekannte Tonne", die Realität sähe deutlich trister aus. Auch beim jüngsten 2:4 gegen den FSV Mainz 05 vermochten sich die "Nagelsmänner" zu keiner Energieleistung aufzuraffen, mit dem Platzverweis für "Rookie" Christoph Baumgartner und dem Elfmeter von Daniel Brosinski (66.) brachen alle Dämme.

"Hoffe" ließ in allen drei Wettbewerben, ob in der Champions League, im Ligabetrieb oder im DFB-Pokal, jene Tugenden in Schlüsselmomenten vermissen, die eine Spitzenelf auszeichnen: Abgezocktheit, Selbstvertrauen, Erbarmungslosigkeit, Standhaftigkeit, Durchsetzungsvermögen und Kühle.

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Fast immer wenn es darauf ankam, erwies sich die "Turn- und Spektakel-Gemeinschaft" anno 2018/19 als allzu zerbrechliches Gebilde. Die Labilität taugte zur Metapher - diese mangelnde Konstanz und Konsequenz kostete letztendlich die neuerliche Zugehörigkeit zur Noblesse des europäischen Vereinsfußballs. Dabei war Platz vier allemal drin. "Wir waren nicht gerade vom Glück verfolgt", bilanzierte Nagelsmann in den Katakomben von Mainz.

Schon nach dem 4. Spieltag, nach einer glanzvollen Vorstellung gegen Borussia Dortmund (1:1) und der tausendprozentigen Chance von Ishak Belfodil (90.+2), die der Algerier aus kürzester Distanz versemmelte, erbat sich Nagelsmann himmlischen Beistand: "Mein kleines Stoßgebet an den Fußball-Gott: Mal wieder über Sinsheim abbiegen!"

Eine Woche zuvor hatte Andrej Kramaric bei Fortuna Düsseldorf das Kunststück fertig gebracht, aus vier Metern das leere Tor nicht zu treffen. Der kroatische Vize-Weltmeister schoss sich mit dem rechten Fuß ans eigene linke Bein - gewissermaßen Slapstick-Fußball!

Nagelsmann steht für Mut, Leidenschaft, Erfolgsbesessenheit, Handlungsschnelligkeit und Systemveränderungen. Er ist seit 2010 als Jugendtrainer in "Hoffes" Akademie ein überaus gieriger, anspruchsvoller Typ, der von anderen sowie von sich selbst alles abverlangt. Solche Perfektionisten haben es mitunter schwer - sie können anstrengend sein. Nagelsmann, das vermutlich größte deutsche Trainertalent, will nach den Sternen greifen, hat stets das Maximale im Fokus. Kampfansagen gehören zu diesem kernigen Oberbayern wie seine mittlerweile 36 kunterbunten Jacken.

Beim RNZ-Sportforum am 16. April in Heidelbergs Event-Location "Halle02" konnte sich das Publikum ein profundes Bild von seinen Charaktereigenschaften machen. Nagelsmann ist ein kluger Kopf, rhetorisch hochbegabt, schlagfertig, humorvoll. Er kann Menschen mitnehmen, begeistern und motivieren - kurzum ein Entert(r)ainer.

Diese Qualität verbindet ihn mit seinem fast 20 Jahre älteren und noch "größeren" Trainerkollegen Jürgen Klopp vom FC Liverpool. Auch Klopps letzte Saison 2014/15 bei Borussia Dortmund verlief alles andere als reibungslos. Die Schwarz-Gelben wurden Siebter und verloren das Pokalfinale gegen die "Wölfe" (1:3).

Das aufregende Fußball-Profigeschäft ist nun mal kein Wunschkonzert. "Schrammen" oder "Dellen" sind kaum vermeidbare Kollateralschäden bei Spielern wie Trainern. Nagelsmann werden sie beim ambitionierten Dorfverein nach 116 Bundesliga-Partien (51 Siege, 38 Unentschieden, 27 Niederlagen) vermissen. Kein anderer TSG-Trainer kann einen Punkteschnitt (1,65) wie der "Lausbub" vorweisen, nicht mal Ralf Rangnick in der sensationellen Erstliga-Premierensaison 2008/09 (1,62 Punkte).

Wegen seines frühzeitig bekannt gegebenen Wechsels zu RB Leipzig machte sich zum Kehraus - zumindest subtil - das gefürchtete "Lahme-Ente-Syndrom" bemerkbar. Dafür spricht etwa die Fundamentalkritik von Andrej Kramaric. Nagelsmann hinterlässt seinem Nachfolger Alfred Schreuder (46) kein leichtes Erbe. "Hoffe" war neben dem Holländer (Vertrag bis 2022) an den Kandidaten Marco Rose, David Wagner, Achim Beierlorzer und Tim Walter dran. Für Schreuder sprach dessen Expertise, gefestigte Persönlichkeit und der Hoffenheimer Stallgeruch: Zwischen Oktober 2015 und Anfang 2018 assistierte der Mann aus Barneveld kurzzeitig Huub Stevens und danach Nagelsmann.

Schreuder betrachtet das innovative Hoffenheim als "Ajax Amsterdam von Deutschland" - insofern könnten Profil und Herangehensweise des alten Bekannten und neuen Trainers zur TSG passen. Pikanterweise wollte Nagelsmann Schreuder als Co-Trainer zu den Leipziger "Bullen" lotsen, doch dieser entschied sich aus nachvollziehbaren Gründen für den Cheftrainerposten in Hoffenheim. Also sind die unterschiedlichen Fußballlehrer künftig Konkurrenten.

Es wird spannend zu beobachten sein, wie sich beide Klubs weiterentwickeln. Noch-Trainer und Immer-Weiter-Sportdirektor Rangnick hat die Messlatte für den künftigen "Bullen"-Dompteur Nagelsmann am Sonntag im "Doppelpass" von Sport1 schon mal hoch gelegt: "Julian hat zu Beginn dieser Saison gesagt, er möchte gerne Meister werden mit Hoffenheim. Dann gehe ich davon aus, dass er das mit uns auch gerne werden würde." Leipzig bläst also zum Halali auf den FC Bayern - mit den beiden Alphatieren Rangnick und Nagelsmann.

Ort des Geschehens

Der Kumpeltyp und Spielerfreund (Nico Schulz: "Er hat nicht nur mich, sondern viele Spieler besser gemacht") hatte bereits am Freitag das Büro geräumt, am Samstagabend verließ er endgültig das Zuzenhausener Trainingsgelände, danach ging es zur internen Abschlussfeier ins Heidelberger "Level 12". Mit einem McLaren 720s brauste er davon. Das passt zu seiner exzentrischen Art und zu seinem Faible für Geschwindigkeit.

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