Studienanfänger feiern offenbar die ganze Woche schon heftig in der Altstadt
Anwohner beschweren sich über Gegröle und Alkoholexzesse

Auch am Donnerstagabend füllte sich die Untere Straße in der Altstadt wieder mit Erstsemestern. Bis um 20.30 Uhr war es jedoch deutlich ruhiger als an den Tagen davor. Foto: Riemer
Von Denis Schnur
Heidelberg. "Ich bin einfach schockiert", erklärte eine Bewohnerin der Neugasse am gestrigen Donnerstag gegenüber der RNZ. Denn was sie am Mittwochabend in der Altstadt gesehen habe, habe sie so noch nicht erlebt. Hunderte Studenten waren dort schon nachmittags unterwegs, viele auch da schon ordentlich betrunken. "Die lagen zum Teil auf der Straße", so die Altstädterin. Aber nicht nur die Tageszeit, zu der die Studenten becherten, überraschte sie, auch was und wie die jungen Menschen tranken: "Da waren etwa Mädels von vielleicht 17 Jahren mit Wodka-Flaschen in der Hand." Andere nutzten Schläuche und Trichter, um sich schnell zu betrinken, wie Anwohner schilderten. Auch die Bauchnabel männlicher Kommilitonen mussten offenbar als Gefäß für Hochprozentiges herhalten.
Der Zeitpunkt ist kein Zufall: Denn am Montag startet an der Universität wieder die Vorlesungszeit. In dieser Woche gibt es deswegen an den meisten Instituten Einführungswochen oder -tage für die Erstsemester. Die Studienanfänger lernen dabei die Stadt, die Universität, ihr Institut, die Professoren und sich gegenseitig kennen.
Hintergrund
hö. In Göttingen wächst der Frust: Dort nennt man die ersten Tage der "Studienfrischlinge" Orientierungsphase - und die waren für die Göttinger hart. Es kommt zu Massenbesäufnissen, regelmäßig landen Erstsemester mit Alkoholvergiftungen in der Notaufnahme. "Ballermann zum
hö. In Göttingen wächst der Frust: Dort nennt man die ersten Tage der "Studienfrischlinge" Orientierungsphase - und die waren für die Göttinger hart. Es kommt zu Massenbesäufnissen, regelmäßig landen Erstsemester mit Alkoholvergiftungen in der Notaufnahme. "Ballermann zum Studienstart" nannte die Hannoversche Allgemeine Zeitung die Zustände. In fast allen Unistädten häufen sich die Klagen über wüste Gelage zu Semesterbeginn. Aus Städten mit Fachhochschulen hört man solches weniger.
Immer wieder kommen diese Meldungen ausgerechnet aus dem eher braven Göttingen. Bereits vor fünf Jahren fürchtete die Unispitze um den Ruf der niedersächsischen Alma Mater und bat die Tutoren, mäßigend auf die Erstsemester einzuwirken. Damals beobachtete man: Die "Erstis" treffen sich zu den Stadtrallyes, auf denen sie sozusagen saufend die Stadt erkunden. Das Phänomen schrie nach einer wissenschaftlichen Aufarbeitung: Vor dreieinhalb Jahren analysierten sechs Kulturanthropologen, Geschlechterforscher und Ethnologen das Verhalten der jungen Leute. Ihre Studie trug als Titel das Zitat eines der befragten Studenten: "Aber scheiß drauf, Orientierungsphase ist nur einmal im Jahr!"
"Ausgeprägtes Macker-Gehabe"
Zwischen den Fakultäten gab es erhebliche Unterschiede, dabei verglichen die Autoren Physiker mit Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern. Während die Naturwissenschaftler vergleichsweise wenig tranken, ließen es vor allem die VWLer und BWLer krachen - unter Aufsicht ihrer Tutoren, die sogar richtige Initiationsrituale pflegten. Die Studie berichtet von "allgegenwärtiger Sexualisierung und ausgeprägtem Macker-Gehabe". Ein Wettbewerb bestand darin, dass "fünf mutige Mädels" sich auf den Boden legten, während "fünf starke Männer" über ihnen Liegestützen machten: "Inszenierungen einer prolligen Männlichkeit" nennen das die Autoren. Und vor allem: Wer nicht mittrinke, herumgröle und diesem Männerbild nicht entsprechen wolle, habe schlechte Karten - denn er würde ausgegrenzt.
Letzteres geschieht schon immer vorwiegend dadurch, dass man nicht nur die Tage, sondern auch die Abende miteinander verbringt. Und dabei geht es nur selten komplett nüchtern zu. Meistens organisieren die Fachschaften ein Abendprogramm, zeigen den Studienanfängern die schönsten Kneipen. Die "Erstis", häufig gerade erst aus dem Elternhaus weggezogen, genießen ihre neue Freiheit - und schlagen auch gerne mal über die Stränge.
In Heidelberg sind es vor allem die Mediziner - immerhin auch die größte Fakultät -, deren Einführungswoche unter Studenten Legendenstatus innehat. 2015 schrieb die Fachschaft im Anschluss bei Facebook von "Erstis, die jeden Mist mitgemacht haben und in der Hauptstraße umherrollten". Das gemeinsame Erlebnis erleichtert den Studenten den Einstieg, Alkohol gehört für viele dabei dazu.
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Doch in diesem Jahr scheint das Spektakel eine neue Dimension angenommen zu haben. An mehreren Stellen in der Altstadt sind die Studenten den Anwohnern und Passanten aufgefallen. Am Universitätsplatz zogen sich offenbar einige "Erstis" bis auf die Unterwäsche aus, ältere Studenten in Laborkitteln versorgten die Neulinge mit Hochprozentigem, immer wieder wurde laut gesungen und gegrölt. "Da war sogar der Heidelberger Herbst harmlos", zieht die Bewohnerin der Neugasse Bilanz. Ein anderer Altstädter sieht in den Feierlichkeiten die "Fortsetzung der Neckarwiese". Dort feiern im Sommer immer die Abiturienten feuchtfröhlich das Ende ihrer Prüfungen.
"In der Nacht zum Donnerstag wurde kräftig gefeiert", bestätigte am Donnerstag auch eine Stadtsprecherin. Schon um 20.30 Uhr habe es erste Beschwerden wegen Lärms gegeben, mehrere seien später hinzugekommen. Die Polizei hat auf das Treiben reagiert und gegen 1 Uhr nachts rund 150 Platzverweise in der Altstadt ausgesprochen, wie Uwe Schrötel, der neue Leiter des Polizeireviers Mitte, erklärte. "Wir müssen uns noch mal Gedanken machen, wie wir das in den Griff bekommen", sagte er der RNZ. "Dass die Erstsemester feiern, ist ja völlig in Ordnung, aber das darf nicht so ausarten."
Der Studierendenrat der Universität äußerte sich am gestrigen Donnerstag auf RNZ-Anfrage nicht.
Und so diskutieren die Leser auf der RNZ-Facebookseite das Thema.



