Von Barbara Klauß
Mannheim/München. Die Rede ist von einem "Scheinkonzern", von einem wirtschaftlichen Fehlverhalten, das es so in Deutschland bislang nicht gegeben hat, das nicht einmal vorstellbar war: Von den Geschichten über den einst gefeierten Zahlungsdienstleister Wirecard soll so gut wie nichts gestimmt haben. So schreibt es die Süddeutsche Zeitung (SZ), nachdem sie den 300 Seiten langen Bericht des Insolvenzverwalters Michael Jaffé eingesehen hat.
Demnach machte Wirecard seit Jahren faktisch immer höhere Verluste. "Nur wenige der weltweit über 50 Konzernfirmen hatten ,überhaupt Einnahmen’", zitiert die SZ aus dem Gutachten. "Der Zahlungsdienstleister, der als deutsche Antwort auf Amazon und Google galt, lebte von den Krediten der Banken und Investoren." Vor der Insolvenz Ende Juni habe Wirecard zehn Millionen Euro pro Woche verbraucht. Allein in diesem Sommer hätte der Konzern dem Bericht zufolge binnen 13 Wochen 200 Millionen mehr ausgegeben als eingenommen. "Geld, fremdes Geld, war eben da und wurde ausgegeben", heißt es in der SZ.
Die Zahlen, die der Insolvenzverwalter demnach auflistet, beschreiben Beobachter als "reinen Horror": Die Überschuldung belaufe sich laut Gutachten des Insolvenzverwalters auf insgesamt 2,8 Milliarden Euro, heißt es in der SZ. Schon im Jahr 2017 soll der Verlust des Konzerns 99 Millionen Euro betragen haben. 2018 stieg das Minus 190 Millionen Euro an, 2019 auf rund 375 Millionen Euro. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres seien Verluste in Höhe von 86 Millionen Euro hinzugekommen. Laut Gutachten habe Wirecard 3,2 Milliarden Euro an Verbindlichkeiten angehäuft. Dem stünden 26,8 Millionen Euro an frei verfügbaren Bankguthaben gegenüber.
Eine Dimension, die selbst Beobachter überrascht. "Bei diesen Maßstäben und diesen Abweichungen zwischen Vermögen und Verbindlichkeiten muss man von Betrug ausgehen", meint Jannis Bischof, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim, am Freitag im Gespräch mit der RNZ. "Es spricht alles dafür, dass hier hohe kriminelle Energie im Spiel gewesen sein muss, um allen ein weltumspannendes Unternehmen vorzuspiegeln, wo am Ende gar nichts war."
Auch die Staatsanwaltschaft München 1 geht davon aus, dass bei Wirecard vieles erfunden war. Sie verdächtigt den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Markus Braun, seinen inzwischen untergetauchten Vorstandskollegen Jan Marsalek und andere Wirecard-Manager des Betrugs, der Untreue, der Bilanzfälschung und der Börsenmanipulation. Braun, der alles abstreitet, und drei weitere Ex-Manager sitzen in Untersuchungshaft. Insolvenzverwalter Jaffé prüfe rechtliche Schritte, vor allem gegen Braun und Marsalek, schreibt die SZ. Er denke zudem über Ansprüche gegen EY nach, den Wirtschaftsprüfer von Wirecard. Der Abschlussprüfer hatte die Bilanzen von 2011 bis 2018 testiert.
EY streitet ein Fehlverhalten ab und erklärt, es gebe deutliche Hinweise, dass es sich bei Wirecard um Betrug handele. Auch mit umfangreich erweiterten Prüfungshandlungen sei es unter Umständen nicht möglich, diese Art von konspirativem Betrug aufzudecken.
Zunächst einmal sei es die Pflicht des Insolvenzverwalters, die Ansprüche gegen EY zu prüfen, meint der Mannheimer Professor Bischof. Entscheidend ist seiner Ansicht nach die Frage, ob der Wirtschaftsprüfer nur fahrlässig gehandelt habe; dann sei die Haftung stark beschränkt. Anders sehe es aus, wenn Vorsatz nachgewiesen werden könne. "Aber dafür gibt es bislang überhaupt keine öffentlich bekannten Anzeichen", betont der Wirtschaftswissenschaftler.
Dennoch stellt sich – auch Bischofs Auffassung nach – die Frage nach Verantwortung und Haftung.
Solche Skandale, erklärt Bischof, folgten immer einem ähnlichen Muster. Meist gebe es eine intransparente Unternehmenskultur. In den Medienberichten ist die Rede von "Chaos" und unklaren Zuständigkeiten. Zudem wurde offenbar angegangen, wer über Ungereimtheiten bei Wirecard berichtete. Braun und Marsalek seien gegen Journalisten der Financial Times und anderer Medien "zu Felde gezogen", um von den Recherchen über und Anschuldigungen gegen Wirecard abzulenken. So liest sich das laut SZ im Insolvenzgutachten.
"Wenn man mit Parteien außerhalb des eigenen Unternehmens so umgeht, kann man sich vorstellen, was im Unternehmen für ein Druck geherrscht haben muss", meint Professor Bischof.
Neben einer Unternehmenskultur, die dazu beiträgt, dass ein solcher Betrug schneller aufgedeckt und gestoppt wird, fordert er strengere Haftungsregeln. So könne in den USA ein Manager für ähnliche Vergehen jahrzehntelang ins Gefängnis gehen. In Deutschland lägen die Strafen weit darunter.
Zudem müsste aus Sicht des Wirtschaftswissenschaftlers die Kontrolle gestärkt werden: "Die Rolle der Finanzaufsicht Bafin ist zurecht kontrovers diskutiert worden", meint Bischof. Allerdings könne man ihr in der momentanen Struktur keinen Vorwurf machen. Diese Strukturen aber gilt es seiner Ansicht nach nun zu ändern: So müssten der Bafin mehr Rechte und Ressourcen zugestanden werden. "Bei Wirecard haben viele Kleinanleger investiert", erklärt Bischof. "Sie zu schützen, ist die ureigenste Aufgabe der Bafin." Nur müsse sie auch in die Lage versetzt werden, das zu tun. "Die Frage ist, was es der Politik wert ist, die Kleinanleger zu schützen."
Doch – wie gut die Kontrollen auch seien, man könne nie ausschließen, dass solche Dinge passieren, meint Bischof. "Der gierige Manager, der bereit ist zu kriminellen Handlungen, wird wahrscheinlich immer einen Weg finden."