Von Barbara Klauß
Heidelberg. Das Lachen ist ihr nicht vergangen. "Jetzt soll ich also von meinem Drama erzählen", sagt Heide Fischer und strahlt ihr Gegenüber an. Dann spricht die 52-Jährige offen über Jahre, in denen sie die unterschiedlichsten Jobs gemacht hat. Die wenigsten entsprachen ihrer Qualifikation, die meisten waren schlecht bezahlt. Fischer, die eigentlich anders heißt, war selten lange bei einem Arbeitgeber angestellt. Immer wieder hat sie als Leiharbeiterin gearbeitet, in der Buchhaltung, in der EDV oder in der Sachbearbeitung.
Solche Arbeitsverhältnisse nehmen zu in Deutschland: In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Leiharbeiter um 43 Prozent gestiegen. Ende 2017 waren es gut 1,03 Millionen, wie aus Zahlen der Bundesregierung hervorgeht. Was bedeutet das für die Menschen?
Nach ihrem Studium der Volkswirtschaftslehre in Heidelberg war Heide Fischer arbeitslos. Das Jahr 1992, Deutschland steckte in der Rezession, die Arbeitslosenquote lag bei 6,6 Prozent. "Ich habe wie wild gesucht", sagt Fischer. "Keiner wollte mich haben." Nach zwei Jahren riet ihr eine Freundin, es mit Zeitarbeit zu probieren. Dabei überlassen Firmen ihre Angestellten für eine bestimmte Zeit einem anderen Arbeitgeber.
"Damals war Leiharbeit noch sehr verpönt", erklärt Fischer. Sie ging trotzdem hin – und bekam sofort einen Job: ein halbes Jahr war sie Sachbearbeiterin bei einer Firma in Heidelberg. "Ich war da Aushilfe, Assistentin – alles Mögliche. Ich habe alle kleinen Jobs gemacht, die man ohne große Ausbildung machen kann." Es störte sie nicht. Ihr war es wichtig, Geld zu verdienen.
Der nächste Einsatz bei einem Dentalvertrieb führte gleich in eine Festanstellung. "Die wollten mich einfach haben. Das war ein sehr schönes Gefühl." Fischer war "der Allrounder für alles": von der Auftragsbearbeitung über das Bestellwesen bis zur Buchhaltung. Doch dann wurde das Unternehmen an die Schweizer Grenze verlegt. Dorthin wollte Fischer nicht. So landete sie wieder bei der Zeitarbeit und hatte nach einer Woche eine neue Stelle.
So ging es – mehr als 25 Jahre lang. Eine Weile war sie bei einem Unternehmen im Rechnungswesen, dann als Finanzmanager bei einem Startup. Sie arbeitete in der Buchhaltung oder in der EDV. Mal ging sie, weil die Bedingungen für sie nicht stimmten, mal wurde ihr nach dem Ende eines Projektes nur eine Stelle als Sekretärin angeboten. Gerade ist sie bei Rockwell Collins in Wieblingen, Sachbearbeitung im Finanzwesen. Auch hier kam sie als Leiharbeitskraft, um eine Kollegin in der Elternzeit zu vertreten. Im Anschluss stellte der Konzern sie ein – befristet, als Elternzeitvertretung.
Rockwell Collins ist ein US-Unternehmen, das unter anderem Kontroll- und Navigationssysteme für die Luft- und Raumfahrt herstellt. Am Sitz in Heidelberg arbeiten im Moment laut Betriebsrat rund 450 Mitarbeiter, 13 von ihnen sind Leiharbeiter. Die rund 100 Ingenieure hätten viel zu tun, erklärt Betriebsratschef Arthur Müller. "Wir hätten Probleme, unsere Aufträge abzuarbeiten, wenn wir diese Unterstützung nicht hätten." Es sei schwierig, genug qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Ein weiteres Problem: "Wir können die Mannschaft nicht beliebig aufbauen, weil wir nicht wissen, ob wir dann alle Mitarbeiter dauerhaft beschäftigen können."
Die Möglichkeit, übernommen zu werden, ist eines der Argumente für die Leiharbeit. Die Integrationserfolge der Zeitarbeit seien statistisch unbestritten, erklärt Werner Stolz, Hauptgeschäftsführer des Interessenverbandes Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ): "Es gibt weder eine Branche, die mehr ehemals Arbeitslose integriert, noch eine Branche, die mehr Geflüchtete in Arbeit bringt." Gerade für diese Menschen sei Zeitarbeit eine gute Wahl. Die Bundesregierung erklärte vor Kurzem, knapp 40 Prozent derer, die im zweiten Halbjahr 2017 ein Beschäftigungsverhältnis in Leiharbeit beendeten, seien 90 Tage danach arbeitslos. Die anderen 60 Prozent fänden in diesem Zeitraum eine neue Beschäftigung – etwa ein Drittel von ihnen lande jedoch erneut in Leiharbeit.
Für Heide Fischer bedeutete die Leiharbeit in Zeiten, in denen sie anders keinen Job fand, eine Chance: Schnell in Arbeit zu kommen. Auch die Abwechslung gefällt ihr. Doch sieht sie ein großes "Aber": das Geld. Leiharbeiter verdienen deutlich weniger als andere Arbeitnehmer. 2017 betrug der mittlere Bruttolohn von Vollzeit-Leiharbeitern 1868 Euro monatlich, der von allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 3209 Euro. Der IGZ weist darauf hin, dass das auch an der häufig geringeren Qualifikation und Berufserfahrung liege sowie am hohen Anteil von Helfertätigkeiten.
Inzwischen müssen Leiharbeiter bei gleicher Arbeit nach neun Monaten den gleichen Lohn bekommen wie die Stammbelegschaft. Ganz so sei es in der Praxis aber nicht, sagt Betriebsrat Müller: Leiharbeiter arbeiteten für das gleiche Geld etwa fünf Stunden länger. Urlaubs- oder Weihnachtsgeld erhielten sie nicht. Und Leiharbeitsverhältnisse dauern oft nicht lange: Die Hälfte ist nach spätestens drei Monaten beendet. Außerdem sei die Arbeitslosen- und Rentenversicherung nicht so hoch, fügt Heide Fischer hinzu: "Man fragt sich immer, ob man da nachher überhaupt was raus kriegt." Und noch etwas belastet sie: Immer wieder von vorne anfangen zu müssen. "Man ist nie wirklich im Unternehmen dabei. Man gehört nicht dazu", sagt sie. "Das ist furchtbar anstrengend."
Es bleibt die ständige Unsicherheit, die Hoffnung auf einen "richtigen" Vertrag. Zum Teil werde diese Hoffnung ausgenutzt, meint Fischer. "Man kriegt eine Karotte hingehalten, muss immer funktionieren, sich immer beweisen." Raphaela Haring aus der Personalabteilung von Rockwell Collins gewinnt dieser Art des Kennenlernens aber auch Positives ab: "Das ist wie eine Datingphase, in der ich mich von meiner besten Seite zeige – mit dem Ziel, dass irgendwann ein festes Verhältnis daraus wird." Rockwell Collins greife auf Leiharbeitskräfte zurück, wenn plötzlich Mitarbeiter ausfallen und keine dauerhaften Stellen geschaffen werden könnten. Sie nutzten die Zeitarbeiter aber auch, um Mitarbeiter mit einem bestimmten Profil zu suchen.
Heide Fischer jedenfalls hofft auf eine Chance bei Rockwell Collins. "Wenn nicht, muss ich eben wieder auf die Suche gehen", sagt sie und lacht. Zur Leiharbeit aber will sie nicht mehr.