Von Roland Karle
Obrigheim. Allein schon wegen seiner knallroten Schuhe und den farblich dazu korrespondierenden Kniestrümpfen zog Sargis Martirosjan die Blicke auf sich. Als der österreichische Nationalheber in Diensten des SV Obrigheim am Samstag gegen 20.30 Uhr die Bühne betrat, geriet der Athlet im funkelnden Dress aber nicht deshalb mächtig unter Stress, sondern weil er zum Hauptdarsteller wurde. Auf ihn kam es nun an.
Im Wettkampf zwischen dem Tabellendritten Obrigheim und dem AV Speyer, dem Bundesliga-Zweiten, waren 35 Versuche im Reißen absolviert, es fehlte noch ein einziger – und Martirosjan, 111,5 Kilo schwer, machte sich bereit für seinen Alles-oder-nichts-Angriff. "Gelingt Sargis dieser Versuch, hat Obrigheim das Reißen gewonnen", rief Hallensprecher Franz Hauß durchs Mikrofon. Von der Anzeigetafel leuchtete das aktuelle Ergebnis: 329,6 zu 341,8. Die Gäste aus der Pfalz hatten sich einen ordentlichen Vorsprung erarbeitet.
Hauß’ Wunsch, das Publikum in der Neckarhalle möge jetzt mal so richtig toben, war kaum ausgesprochen, schon hörte man sein eigenes Wort nicht mehr. Derweil lagen Sargis Martirosjan 178 Kilo zu Füßen. Rund zehn Minuten zuvor war er – nach geglückten 165 Kilo zum Auftakt – an 172 Kilo gescheitert. Sprich: Der Mann wollte nun 13 Kilo mehr reißen, als er bislang geschafft hatte.
Gebannte Blicke: Vor großer Kulisse lieferten sich der SV Obrigheim und der AV Speyer vor allem im Reißen ein spannendes Duell, das mit einer 1:2-Heimniederlage endet. Fotos: Thomas KottalDie Neckarhalle wird zum Tollhaus
Rund 800 Augenpaare schauten gebannt auf den 33-Jährigen. Der hatte im gleißenden Bühnenlicht Position bezogen. Tief in der Hocke sitzend, schraubte er unablässig seine Hände in die Hantelstange. Nochmal kräftig durchatmen, dann zog er an. Schnell, kraftvoll, unaufhaltsam. Und dann posierte er da: Aufrecht, mit durchgedrückten Knien, die Hantel auf den ausgestreckten Armen fixiert, mit fast lausbubenhafter Miene. Die Neckarhalle stand Kopf, kaum einen hielt es noch auf seinem Sitz. Ein Tollhaus. Franz Hauß rang kurz um Fassung, ehe er mit brüchiger Stimme den "gültigen Versuch" und den Sieg im Reißen verkündete, mit gerade mal 0,8 Punkten Vorsprung für die Gastgeber.
"Ich habe selten eine solche Euphorie in der Neckarhalle erlebt", sagt Manuel Noe über den Gänsehaut-Moment, den Martirosjan dem Obrigheimer Publikum am Samstagabend bescherte. "Wir haben uns reingekämpft, und Sargis‘ erfolgreicher Versuch zum Abschluss, das war die Krönung", so Obrigheims Sportvorstand über das begeisternde Finale des ersten Durchgangs und den gewonnenen Punkt im Reißen. Der Gegner zeigte sich davon nicht überrascht. "Wir haben die Obrigheimer so stark erwartet, gingen sogar davon aus, dass sie einen größeren Vorsprung herausholen", sagte Speyers Kapitän Jürgen Spieß, der als drittbester Speyerer 152 Punkte holte. Martirosjan spendete er für seinen mitreißenden Versuch ein Sonderlob. "Sargis, das war eine große Nummer", so Spieß.
Speyer dreht im Stoßen den Spieß um
Zum kompletten Wettkampf gehört aber auch das Stoßen – und zur ganzen Wahrheit die Erkenntnis, dass sich die Obrigheimer Gewichtheber, zumal in eigener Halle, lediglich als "Sieger der Herzen" fühlen durften, aber das entscheidende Duell um den Einzug in den Endkampf um die deutsche Mannschaftsmeisterschaft 2020 mit 1:2 im Gesamtergebnis und 850,2:884,9 Relativpunkten verloren haben. Denn der AV Speyer drehte im zweiten Durchgang den Spieß um. Im Stoßen wurde der deutsche Serienmeister (2015 bis 2018) seiner Favoritenrolle gerecht. Nach den ersten Versuchen im zweiten Block, also nachdem alle sechs Athleten beider Teams an der Reihe gewesen waren, führten die Gäste mit einem Vorsprung von fast 35 Punkten. "Das konnten wir nicht wettmachen. Im Stoßen hatten wir keine Chance", räumt Noe ein.
Was auch daran lag, dass der SV Obrigheim nur einen Ausländerplatz besetzt hatte. Die beiden Spanier Acoran Hernandez und Alejandro Gonzalez traten zeitgleich bei den Landesmeisterschaften in ihrer Heimat an, die Britin Emily Campbell fehlte verletzt. So blieb nur Sargis Martirosjan, der Olympia-Elfte von 2016, der am Ende mit 169 Relativpunkten hinter Lokalmatador Nico Müller (170 Punkte) zweitstärkster Obrigheimer und viertbester Heber des gesamten Wettkampfs war. Die Einzelwertung führten zwei Albaner an, die letztlich den siegbringenden Ausschlag für den AV Speyer gaben. Briken Calja glänzte mit 187 Punkten vor Erkand Qerimaj, der bei seinem Debüt für die Pfälzer 175,4 Punkte erzielte.
Beide Athleten kämpfen um die Qualifikation für Olympia 2020 in Tokio, sie sind also sportliche Hochkaräter. In Sachen Doping wurden sie allerdings schon aktenkundig, waren deshalb international gesperrt. Gleichwohl: Die Regularien des deutschen Gewichtheber-Verbandes lassen es zu, dass wegen Dopings vorbestrafte Sportler nach Verbüßen ihrer Sperre in der Bundesliga wieder heben dürfen. Auch der SV Obrigheim hat in der Vergangenheit den Spielraum des Erlaubten genutzt und zum Beispiel den Bulgaren Ivan Markov eingesetzt. "Wir fahren in Obrigheim längst eine andere Linie und verpflichten keine Athleten aus dopingbekannten Nationen und auch niemanden, der schon positiv getestet wurde", betont Manuel Noe.
Teamchef Noe: "Alles versucht"
Als klar war, dass Briken Calja und Erkand Qerimaj für Speyer heben würden, sanken die Siegchancen des SV Obrigheim erheblich. "Wenn der Wettkampf dann einigermaßen normal läuft, können wir nicht mithalten", so Manuel Noe. Hätten die Einheimischen einen der beiden Spanier Hernandez oder Gonzalez oder die Britin Campbell am Samstag aufbieten können, wäre die Chance groß gewesen, den Rückstand von 35 Punkten aufzuholen. "Wir haben alles versucht, aber mehr ging nicht", sagt Noe, der trotz der Niederlage keinen Grund zu hadern sieht. "Unter den gegebenen Umständen haben wir eine sehr gute Leistung gezeigt. Ich bin wirklich zufrieden mit der Art und Weise, wie wir aufgetreten sind und wie unsere Athleten gekämpft haben."
Insgesamt sieben Hebungen waren ungültig, Martirosjan verzichtete zudem auf seinen letzten Stoßversuch – eine ungewöhnlich hohe Fehlerquote für Obrigheimer Verhältnisse. "Das zeigt eben auch, dass unsere Mannschaft am Limit war. Aber wir mussten etwas riskieren", erklärt Sportchef Noe. Nur ein Obrigheimer blieb am Samstag fehlerlos: Nico Müller brachte es nach sechs gültigen Versuchen auf 170 Punkte, wobei er sich im Stoßen etwas zurückhielt. In den vergangenen Tagen machte ihm die Achillessehne etwas Probleme. Knapp zwei Monate vor der Europameisterschaft in Moskau, deren Ausgang für die Olympia-Qualifikation bedeutend sein wird, zeigte sich Müller ansonsten in starker Verfassung. Auf anderem Niveau, aber ebenfalls gutem Kurs befindet sich Ruben Hofmann. Der jüngste Obrigheimer machte einen guten Wettkampf, patzte lediglich im letzten Stoßversuch, als ihm eine Steigerung um fünf auf 155 Kilo nicht gelang. Mit 118,2 Punkten und 278 Kilo im Zweikampf erfüllte er die Erwartungen und "lag sogar etwas über dem Plan", so sein Trainer Ingo Fein. Hofmann, am Samstag 80 kg schwer, möchte sich für die kommende U20-EM qualifizieren, die geforderte Norm liegt bei 300 Kilo.
Gut, aber nicht überragend
Auch Moritz Huber hat internationale Ambitionen. In der 68-Kilo-Klasse muss er 270 Kilo erreichen, um in den U21-EM-Kader zu gelangen. Gegen Speyer lieferte der aus Lörrach stammende Neuzugang einen passablen, aber keinen überragenden Auftritt. 260 Kilo im Zweikampf und 130 Punkte standen im Protokoll. Zum Vergleich: Ende Dezember gegen Samswegen hatte Huber mit einer Bestleistung von 150 Punkten brilliert. Neuer Vorbereitungszyklus, etwas Trainingsrückstand wegen Prüfungsstress im Studium, ein bisschen Wettkampfpech – all das spielte am Samstag eine Rolle.
Jakob Neufeld, mit 36 Jahren der Routinier im Team, ist ebenfalls hauptberuflich Hochschüler und hat zuletzt die meiste Zeit mit Lernen und weniger mit Gewichtheben verbracht. "Ich muss mich heute entschuldigen für meine Leistung", sagte der angehende Lehrer nach vier gültigen Versuchen und 126 Punkten. Nein, ein Grund zur Entschuldigung ist das nicht, denn Neufeld kämpfte erneut vorbildlich und hat zudem durch seine im Dezember erlittene Nackenverletzung ohnehin etwas an Substanz eingebüßt. Es spricht für ihn als Sportsmann, dass er sich so in die Pflicht nimmt.
Bleibt Mohammed Hoblos, der ebenso wie Huber seine erste Saison in Obrigheim absolviert. Auch der Dortmunder musste zuletzt kürzertreten wegen einer Verletzung am Daumen. Im Wettkampf hat er das anscheinend durch erhöhte Adrenalinausschüttung kompensiert. Dem Mann mit sichtbarem Talent für Entertainment gelangen nach 140 Kilo im Reißen (ein Fehlversuch) drei gültige Versuche und 170 Kilo im Stoßen. "Wenn ich hier auf die Bühne komme, da geht mir das Herz auf", bedankte sich Hoblos nach erzielten 137 Punkten, durch die er zum drittbesten Obrigheimer Heber an diesem Tag avancierte.
Für den SV Obrigheim stehen noch zwei Auswärtswettkämpfe in dieser Saison an. In zwei Wochen (29. Februar) geht’s zum Tabellenletzten AC Weinheim, die Bundesliga-Runde endet dann am 14. März mit dem Gastspiel beim Chemnitzer AC.
Finale verpasst: Obrigheim fällt auf Rang vier zurück
Durch die 1:2-Niederlage gegen den AV Speyer hat sich das Konto des SV Obrigheim auf 11:7 Punkte verschlechtert, während die Pfälzer mit nun 13:5 Punkten ihren zweiten Tabellenplatz untermauerten. Obrigheim, bislang Dritter, ist auf den vierten Rang zurückgefallen, weil der AC Mutterstadt durch einen 3:0-Sieg (907:835,5) bei TB Roding nun 12:6 Punkte aufweist und den Neckar-Odenwald-Club überholt hat. Der AC Mutterstadt, in Roding mit seinen ausländischen Stars Mohamed Ihab Youssef Ahmed Mahmoud (Ägypten) und Antonino Pizzolato (Italien) sowie dem sehr starken Max Lang (183 Punkte) am Start, hat mit 907 Relativpunkten das bislang höchste Ergebnis unter allen Bundesliga-Teams in der Saison 2019/20 erzielt.
Spitzenreiter bleibt der deutsche Meister SSV Samswegen (18:3 Punkte), der beim KSV Durlach mit 2:1 gewann. Speyer und Mutterstadt sind in ihren verbleibenden Wettkämpfen klare Favoriten. Sie müssten mindestens zwei von sechs zu vergebenden Punkten verlieren, damit Obrigheim – das dann aber selbst zwei 3:0-Siege braucht – noch vorbeiziehen kann. Nach Lage der Dinge sind die Chancen auf Platz drei und damit die Qualifikation für den DM-Endkampf am 25. April nur noch theoretischer Natur.