Verfall der Innenstadt

Was wird aus der Heilbronner City?

Ein Essay von Brigitte Fritz-Kador zum "Problem Innenstadt", das auch die Rede von OB Mergel beim Neujahrsempfang bestimmte.

11.01.2024 UPDATE: 11.01.2024 06:00 Uhr 4 Minuten, 10 Sekunden
Die Ansprüchen der Gesellschaft an eine lebenswerte Innenstadt haben sich gewandelt. Das zeigt sich auch in Heilbronn deutlich. Obwohl die Stadt boomt, hat der Handel Probleme. Die angekündigte Schließung des Modehauses Palm und die ungewisse Zukunft von Galeria-Kaufhof sind ganz aktuelle Belege dafür. Foto: Armin Guzy

Heilbronn. Was gerade in Heilbronn geschieht und diskutiert wird, ist kein Einzelfall: der Verfall der Innenstädte. Die angekündigte Schließung des Modehauses Palm und die schwarzen Wolken über Galeria-Kaufhof lassen sich nicht mehr ausblenden, auch nicht beim jährlichen Bürgerempfang der Stadt Heilbronn. "Das Beste für die Stadt muss etwas sein, was auf jeden Fall mehr ist, als die Summe der vorhandenen Einzelinteressen", sagt Oberbürgermeister Harry Mergel. Aber was ist dieses "Mehr", wenn schon das Wenige nicht funktioniert? fragt sich da mancher Bürger.

Das Modehaus Palm ist kein Einzelschicksal, auch wenn jetzt gerade so viele Vorwürfe in den Sozialen Medien nur noch personalisiert geäußert und jegliche sachlichen Ebenen ausgeklammert werden, statt ihnen auf den Grund zu gehen. Und OB Mergel fokussierte sich sehr auf die immer gleichen gelungenen Beispiele der jüngeren Vergangenheit.

Alle stünden "vor großen Herausforderungen": "Digitalisierung und Künstliche Intelligenz beschleunigen unser aller Leben", sagte er den Bürgern, aber das wissen sie ja schon, und auch, dass "die wirtschaftliche Transformation klassischer Branchen unsere Wertschöpfungsprozesse grundlegend verändert, nicht nur in der Produktion, sondern auch im Handel". Mergels Mängelliste zur politischen Großwetterlage ist lang, aber damit müssen auch die Städte zurechtkommen, die es schaffen, ihre Innenstädte vor dem "Absaufen" in die Niveaulosigkeit und vor überbordenden Leerständen zu bewahren.

Corona, Kriege, Flüchtlingsströme, die Herausforderungen des Klima- und Mobilitätswandels, die Energieversorgung, die Mergel aufzählte – das lässt sich noch viel weiter ergänzen. Dies alles zu bewältigen, das müsse man sich so vorstellen, als ob man aus dem Fenster eines fahrenden Autos heraus einen Reifen wechseln wolle, sagte Mergel.

Aber manche Städte, auch im Ländle, schaffen es eben, dabei nicht in Unwucht zu geraten, sie bleiben in Fahrt, werden komplexer, und das aus eigener Kraft und mit eigenem Willen. Um das zu erleben, muss man nicht in die Niederlande oder nach Italien fahren, wie es der Gemeinderat getan hat.

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Mergel sagte: "Unsere Stadt hat mit maßgeblicher Unterstützung der Dieter-Schwarz-Stiftung ein neues Kapitel ihrer Geschichte aufgeschlagen. Heilbronn wandelt sich von einer Industriestadt klassischer Prägung zur Bildungs- und Wissensstadt mit einer modernen, lebendigen, weltoffenen Einwohnerschaft und guten Zukunftsaussichten für alle Bevölkerungsgruppen. Wir setzen auf Bildung und Wissenschaft."

Da trifft er genau den Punkt, denn das, was Heilbronn so verändert, das geschieht nicht aus eigener Kraft, aus eigenem Willen und Entschluss. Es kommt nicht aus der Verwaltung und dem Gemeinderat, es kommt von der Stiftstraße in Neckarsulm – von dort aus fließen die "gesparten" Steuermillionen in die Schwarz-Stiftung auf den Bildungscampus. Das hat zu einer immer spür- und hörbareren Mentalitätsveränderung geführt, nach dem Motto: "Warum selber anstrengen, das macht der Schwarz doch sowieso, oder er soll es machen."

Wolfgang und Axel Palm kritisieren und belegen es, dass sie in so vielen Initiativen und Mahnungen nicht nur längst auf den Niedergang der Stadt hingewiesen, sondern zugleich auch Vorschläge für deren Handlungsspielraum gemacht und dazu gelungene Beispiele aus anderen Städten angeführt haben.

Jetzt schaut man auf die Galeria, las im Magazin "Business Insider" schon vor Jahresende, dass die wohl misslungene Kaufhof-Sanierung 600 Millionen Euro Steuergelder verbrannt hat und die einzigen Gewinner die Insolvenzverwalter sind, die bis dahin 82 Millionen Euro Honorar erhalten haben sollen. Das sind vier Millionen mehr, als der Gesamtbetrag für Investitionen im Heilbronner Haushalt für 2024.

Die Verödung der Innenstädte, der sichtbare Strukturwandel, ist Kollektivschicksal, und der Umgang damit ist längst auch Gegenstand wissenschaftlicher und historischer Beschäftigung. Die "Polis" war ja mal Entstehungsraum der Demokratie, die "Agora" der Ort des freien Wortes, und Handelswege, Flüsse, Märkte die Keimzellen der Städte – alles auch mal "typisch Heilbronn". Heute wünschen sich 72 Prozent der Bürger eine Veränderung der Innenstädte. Zu diesem Ergebnis kommt die empirische Studie #Elasticity der Innovationspartnerschaft "Innenstadt 2030+ Future Public Space", des Fraunhofer-Institutes, das auch einen Sitz auf dem Heilbronner Bildungscampus hat.

Die Studie bringt es auf den Punkt: "Die Frage, wie Innenstädte revitalisiert und wieder an Bedeutung gewinnen können, kann nur gelöst werden, wenn eine Alternative zu aktuellen Stadtkonzepten entwickelt wird, die der Innenstadt zu neuer Vitalität und Multifunktionalität bei gleichzeitiger Wirtschaftlichkeit verhilft." Die Stadtkonzeption von Heilbronn stammt aus dem Jahr 2017, wird aber "fortgeschrieben".

Laut einer Erhebung des EHI-Retail-Institutes aus Köln glauben 27 Prozent der Händler, dass die Toplagen in Großstädten an Bedeutung verlieren. Für die Kerne der kleineren Orte sehen 30 Prozent der Händler schwarz, zwei Drittel nennen Shoppingmalls als Verlierer, nur sogenannte Fachmarktzentren seien ein sicherer Hafen, also Großgeschäfte, die etwas abseits liegen, aber eine große Auswahl und günstige Preise bieten. Modehändler Palm führt dies auch schon lange als Grund an: "Die Handelszentren in der Peripherie bleiben außen vor. Obi, XXXL-Lutz, Möbel-Rieger, Kölle, Kohfink: Keine Stadt in Süddeutschland hat in der Peripherie einen so hohen Anteil an Verkaufsflächen von zentrenrelevanten Sortimenten wie Heilbronn." Laut EHI-Retail stehe aber auch der Online-Handel vor einem Umbruch.

Auf die Fraunhofer-Vorschläge weist Palm schon lange und wiederholt Verwaltung und einzelne Gemeinderäte hin. Basis der Studie waren Fragen nach den künftigen Ansprüchen der Gesellschaft an eine lebenswerte Innenstadt und den Alternativen zum derzeitigen Status. Die Antworten sind so neu nicht, betonen aber Wichtigkeit und Funktion der Innenstadt: "Historisch betrachtet haben diese eine immense Bedeutung für alle Bürger*innen, da sie als Multifunktionsorte verschiedene Ebenen verbinden: sozialer Austausch, Handel, Kommunikation, politische Partizipation, öffentliche Diskurse, Verkehr und Freizeit."

Das heißt aber nicht, dass man den Kiliansplatz in ein Wäldchen und den Marktplatz in einen Sportplatz verwandeln muss – letzteres geschah ja vergangenes Jahr, für immenses Geld und mit kaum spürbarer Nachwirkung beim Hochsprung-Meeting. Trotzdem will man daran weiter festhalten. Als einen Faktor für eine gesteigerte Bleibe-Lust und Freude an der Innenstadt bei der neuen akademischen Zuwanderung sind solche Events kaum zu sehen.

Nach dem Städteranking 2023 des Magazins Wirtschaftswoche, kürzlich im Gemeinderat gezeigt, zählt Heilbronn zu den dynamischsten Städten Deutschlands, ist einer von acht "Aufbruchsorten" als "Ort des Anpackens und der Hoffnung". Leider findet dieser Aufbruch aber Stadt-fern im KI-Zukunftspark und City-fern mit konkurrierender Infrastruktur zur Innenstadt auf dem Bildungscampus West statt.

Den 2000 Gästen des Neujahrsempfangs in Harmonie legte Mergel auch noch ans Herz: "Wir brauchen dabei konstruktive Kritiker, am besten mit guten Vorschlägen. Was wir nicht brauchen, sind die nahezu immer gleichen stereotyp verbreiteten Zerrbilder – für die es keinerlei Belege gibt, die darin gipfeln, dass Frauen sich in unserer Stadt nicht mehr auf die Straße trauen." Solche Bilder hätten weder die Stadt und schon gar nicht "unsere Händler und Gastronomen verdient, die jeden Tag ihr Bestes für ihre Kunden und Gäste geben".

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