Sinsheim

Von Kopf bis Fuß auf Ukraine eingestellt

Binnen kürzester Zeit wurden 80 Privatwohnungen zur Verfügung gestellt und 145.000 Euro Spendengeld gesammelt.

23.03.2022 UPDATE: 24.03.2022 06:00 Uhr 3 Minuten, 26 Sekunden
Künftige Unterkunft: Die Sidlerschule wurde am Mittwoch mit Notfalltreppen und zuvor mit Waschcontainern versehen. Foto: Tim Kegel

Von Tim Kegel

Sinsheim. Zahlen und Fakten, die man wirken lassen musste: Rund 145.000 Euro haben Sinsheimer gespendet, seit es die städtischen Bankkonten zur Hilfe für die Ukraine gibt. Allein 80 Privatwohnungen, die von der Bevölkerung zur Unterbringung von Personen nach ihrer Flucht aus dem Kriegsgebiet bereit gestellt werden sollen, sorgten bei der jüngsten Sitzung des Technikausschusses des Gemeinderats für die Äußerung im Rund, man könne "fast meinen, dass es keinen Wohnungsmangel gibt".

"Tausend Fragen" stellten sich zurzeit für die Rathaus-Mitarbeiter, die die Hilfe für die Flüchtlinge betreuen, sagte Oberbürgermeister Jörg Albrecht. Dieses Personal vom Gebäudemanagement, vom Ordnungs- und Ausländeramt, Bauhof und von der Arbeitssicherheit sei bereits während der Corona-Krise "am stärksten gefordert" gewesen und jetzt wieder – "ausgerechnet", wie Albrecht einschob. Ein hoher Krankenstand im Rathaus – "gefühlt jeder" sei zurzeit nach einem Positiv-Test in Quarantäne – mache die Sache schwieriger. Nun ist bekannt, dass die Bevölkerung der Ukraine den Corona-Injektionen zurückhaltend gegenüber steht, mit einer Impfquote von rund 35 Prozent, zumal mit einem in Deutschland nicht zugelassenen Präparat. Vorgefühlt, "wie’s mit Corona aussieht" in den Unterkünften hatte Freie-Wähler-Sprecher Harald Gmelin. Und Albrecht ließ durchblicken, dass die kürzlich noch die ganze Nation umtreibende Frage plötzlich offenbar nicht mehr zu den vordringlichsten Problemen im Land gehört: Seine Erfahrung aus bisherigen Unterkünften im Kreis zeige, dass die Ukrainer in eigens bereitstehenden "Bussen medizinisch durchgecheckt, getestet und auf Wunsch auch geimpft" werden könnten. Seiner Ansicht nach funktioniere hier eine "typisch-deutsche, strukturierte" Herangehensweise. "Die Impfquote kann uns aktuell nicht interessieren", stellte Albrecht klar.

Vieles geht, wenn man bloß will – ein solcher Eindruck wurde auch bei der Suche nach freien und großen städtischen Immobilien erweckt: Nachdem am Dienstag nichts aus deren Ankunft wurde, sollen jetzt 70 Personen an diesem Donnerstag in der Steinsfurter Schindwaldhalle eintreffen; 30 sollen es, ähnlich kurzfristig, in der Hoffenheimer Mehrzweckhalle werden. Auch die sogenannte "Villa Edel" neben dem neuen Kaufland in der Neulandstraße soll zur Unterkunft werden, ebenso eine derzeit ungenutzte Industriehalle der Firma Deppner im Gebiet "Breite Seite". Schon etwas länger im Gespräch: "die gute alte Sidlerschule". Dort wurde inzwischen ein Waschcontainer aufgebaut, den zu besorgen laut Albrecht nicht einfach war: "Alle brauchen dasselbe Material", sagte er. Landesweit. Bundesweit. Das Beispiel Waschcontainer würde daher mittlerweile auf Auktionen "versteigert", ebenso Toilettenhäuschen; einige Exemplare sollen jetzt trotzdem noch angeschafft werden.

Frenetisch gefeiert wurde bei der Sitzung "die große Hilfsbereitschaft". Die Ortsvorsteher Rüdiger Pyck aus Steinsfurt, Alexander Speer aus Dühren und Karlheinz Hess aus Hoffenheim warfen hier stellvertretend den Name Karin Blum in die Runde, der Zuständigen beim Gebäudemanagement. Zahlreiche in Sinsheim lebende Ukrainer übernähmen zudem Schlüsselrollen, etwa in Hoffenheim, vor allem aber auch in der Sinsheimer Robert-Wagner-Straße bei der Organisation von Hilfstransporten an die polnische Ukraine-Grenze. An der Volkshochschule sollen Deutschkurse angeboten werden. Im Rathaus wird eine Qualifizierungs-Kartei geplant – zur Vermittlung in Berufe und Nebenjobs. In Steinsfurt findet nun ein Treffen der Vereine statt: Kaum handlungsfähig nach dem Ende der Corona-Verordnungen sind die Vereine in der nächsten Ausnahmesituation.

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Die Million Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland, von denen Regierungskreise sprechen – die hiesigen Entscheider, darunter auch Landrat Stefan Dallinger, halten diese Zahl laut Albrecht "eher für die untere Grenze". Und schon seit geraumer Zeit kommen Menschen aus der Ukraine in Sinsheim an – in der Kreis-Asylbewerberunterkunft im Fohlenweideweg. Über genaue Zahlen ist nichts bekannt – schon während der Flüchtlingskrise 2015 und früher drang wenig Information aus der Einrichtung am Stadtrand. Und so blieb unscharf, wo genau sich die "schwierigen und belastenden Momente" abspielen, von denen Albrecht für seine Mitarbeiter berichtete: Von "leeren Augen der Kinder" wurde gesprochen; von der Enttäuschung beim Umzug in die Unterbringung bei Privatpersonen, "wenn zehn Leute mit dürfen – und der Rest hinten dran steht".

Die Unterbringung im Fohlenweideweg – dort leben überwiegend Menschen aus dem schwarz- und nordafrikanischen Raum, Nahost und Vorderasien, aber bislang auch immer wieder Obdachlose – "sollte vorübergehend sein", sagte Albrecht.

An der „Villa-Edel“ in der Neulandstraße wurden Sanitärarbeiten erledigt. Foto: Tim Kegel

Auf großes Interesse stießen die Informationen beim Gremium: SPD-Rat Michael Czink brachte einen großen 250 Millionen Euro-Sonderförderungstopf für die Ukraine-Hilfe ins Gespräch, der aber nach ersten Einschätzungen der Stadt "eher den Neubau von Flüchtlingsheimen" bezuschusse. Grünen-Rat Jens Töniges wollte Ukrainern Tickets für Busse und Bahnen zur Verfügung stellen; nach Albrechts Schilderung wollten diese Menschen jedoch lieber "Kontakt zu ihrer Familie halten" über einen soliden Internet-Zugang. CDU-Rat Florian Hummel erkundigte sich nach der Fluktuation der Menschen nach der Ankunft; etwa ein Viertel der Personen suche nach Albrechts Einschätzung das Gespräch wegen einer Unterbringung bei Verwandten und Freunden, "auch weiter entfernt". Hier mache man die seltsame Beobachtung, dass nicht wenigen "die Pässe abgenommen worden" seien. Plötzlich würden teils dubiose "Ersatzdokumente vorgezeigt". Nun versuche man, dies zu klären.

Klären ließ sich ein sich hartnäckig in Sinsheim haltendes Gerücht, nachdem das frühere Restaurant-Hotel "Ratsstube Steidel" in Dühren als Unterkunft genutzt werden könnte. Der Traditionsbetrieb wurde verkauft, wie es heißt an einen Investor aus Heilbronn, der den Komplex abreißen und dort an die 60 Wohnungen hochziehen wolle. "In der Tat" sei man an "dem Thema dran gewesen", verriet Albrecht. Ergebnis: "Es geht nicht." Es werde bereits entkernt.

So mancher im Gremium witterte dann doch soziale Konflikte, etwa wenn aus 90 Tagen in der Einliegerwohnung eine unabsehbare Zeit wird. Albrecht spürte das und hofft, "dass die Leute das physisch und psychisch durchhalten". Als Realist müsse man auch in Betracht ziehen, "dass es irgendwann vielleicht unentspannter wird".

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