Antisemitismus in Heilbronn

Wie steht es um die Erinnerungskultur?

Nachdem die Fahne Israels vor dem Rathaus heruntergerissen und zerstört wurde: Auch Unterlassungen können Antisemitismus befeuern.

23.10.2023 UPDATE: 23.10.2023 06:00 Uhr 3 Minuten, 14 Sekunden
Das Mahnmal für die frühere Synagoge in der Allee ist der einzige Platz in Heilbronn, an dem an die einst blühende und Stadt-prägende jüdische Gemeinde Heilbronns erinnert wird. Das Bild zeigt den Stein bei einer Gedenkfeier zum 9. November mit Oberbürgermeister Harry Mergel. Archivfoto: Brigitte Fritz-Kador

Von Brigitte Fritz-Kador

Heilbronn. "Sie waren keine Randgruppe, sondern prägten die Stadt ganz wesentlich mit im Aufschwung der Gründerzeit: Heilbronn hatte eine der stärksten jüdischen Gemeinden im Südwesten." Das schreibt Joo Peter, online für jedermann nachlesbar, in seinen "Zeitsprüngen".

Der Antisemitismus von jetzt bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit, also darauf, welche Taten man "nachweisen" kann, sondern auch auf die Unterlassungen. Ganz aktuell ist der Anschlag auf die Fahne Israels vor dem Rathaus. Was ist seither geschehen? Es wurde Anzeige erstattet – und sonst? Noch hat sich keine Hand gerührt, Protest öffentlich zu machen. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten gibt es auch kein "öffentliches Wort" der Distanzierung aus den Reihen hier lebender Muslime. Nur deshalb nicht, weil es sich nicht mit dem Bild Heilbronns als "sichere Großstadt" verträgt?

Der Verfassungsschutz des Landes zeigt ein Bild unter dieser Decke von Verdrängung in der mehrteiligen Abhandlung "Salafistische Netzwerke im Wandel" aus dem Jahr 2020. Darin liest man, dass der salafistische Multifunktionär Neil Bin Radhan weniger medienwirksam arbeitet, dafür aber um so mehr im Hintergrund: "Geboren 1982 als Sohn einer Deutschen und eines Saudi-Arabers, erfuhr er eine frühe Sozialisierung im wahhabitischen Saudi-Arabien. Seit seiner Jugend wuchs er in Deutschland auf. Bereits während seines Informatikstudiums in Heilbronn beschäftigte er sich intensiv mit der Verbreitung des Islams." Weiter heißt es, spätestens seit 2004 sei er als Online-Prediger und Islamlehrer aktiv, er zähle zu den wichtigsten Akteuren eines überregionalen Netzwerks von salafistischen Predigern, war von 2009 bis 2016 Imam in der salafistischen "Bilal-Moschee" in Heilbronn, danach Imam beim VMH (Verein für Muslime Heidelberg), dessen Vorsitzender er seit dem Frühjahr 2019 ist.

So nahe also sind Heilbronn die Aktivisten des Terrors, Gegner von Juden und Christen gekommen – alles frei zugänglich nachlesbar. Legt der Polizeipräsident seine Jahresstatistik vor, liegt die Zahl von Straftaten mit politischem Hintergrund im unteren zweistelligen Bereich. Die Frage bleibt: Was zählt eigentlich dazu? Ist es "nur" die mehrfache Beschädigung des Chanukka-Leuchters an der Allee, dem Mahnmal für die einst an dieser Stelle stehende Synagoge, oder nun das Herunterreißen der Fahne Israels?

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Man kann dem Antisemitismus vielfach begegnen, Taten zählen dabei genauso wie Unterlassungen. Die Literatur zeigt es gerade aktuell mit der sonntäglichen Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Salman Rushdie in Frankfurt und der des Kurt-Tucholsky-Preises in Berlin an den Heilbronner Stadtschreiber Alexander Estis. Von ihm stammt, nicht zufällig, der samstägliche Feuilleton-Aufmacher "Sehr geehrte Antisemiten" in der "Süddeutschen". Das Literaturhaus bietet immer wieder entsprechende Lesungen, gerade erst zu Gast war Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein mit ihrem Buch "Es kann nicht jeder ein Gelehrter sein, eine Kulturgeschichte der jiddischen Literatur 1105-1597".

Am 27. Oktober liest die Journalistin Iris Völlnagel zu ihrer "Entdeckung", dem Heilbronner Juden Alfred W. Rosenfeld. Wie viel "Helden" hat eigentlich Heilbronn, dass man sie so vernachlässigen kann? Über die Mühen der Erinnerung an den KZ-Häftling und Widerständler Walter Vielhauer wurde schon vielfach berichtet. Einige Heilbronner erinnern sich noch an die beiden Pfarrer an evangelischen Kirchen, Wolfgang Litterscheid und Geert Tepperberg. Sie waren getaufte Juden, die ein Leben lang ihre eigentliche Herkunft den Heilbronnern verschwiegen – warum wohl?

Auch er bekam noch keine "Story": Walter Marx. Das Haus Wilhelmstraße 54 mit der "Rosenberg-Apotheke" ist sein Elternhaus. Sein Vater hatte eine Papiergroßhandlung, er wurde in Majdanek umgebracht, seine Mutter in Auschwitz, Marx war ein außergewöhnlich mutiger Widerstandskämpfer und Partisan, seine Erinnerungen an Heilbronn, Familie und Flucht dienen bis heute Historikern als Quellenmaterial. Welche Heilbronner Schule zeigte schon einmal den Doku-Film, der 2009 über ihn gedreht wurde? Thematisiert in Heilbronn wurde nur die unschöne Geschichte zur Wiedergutmachung um das Elternhaus; das Verfahren endete mit einem Vergleich.

Als es an einem April-Abend im Literaturhaus um die so bedeutenden und vielen jüdischen Autoren aus der ukrainischen Literaturstadt Czernowitz ging, vor allem um Paul Celan, seine Nähe zu Hölderlin und seine Besuche im Unterland, war der Raum voll, auch ohne mediale Präsenz und der, der hiesigen Kulturbürokratie. Niemand wird vergessen, wie Estis hier Celans "Todesfuge" vortrug und die Frage dazu: Wer kann da noch Antisemit sein?

Der Heilbronner Schriftsteller Hans Franke hat in seinem Standardwerk von 1963 "Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn" alle verfügbaren Namen und Schicksale zusammengetragen, eine unglaubliche Recherchearbeit, heute als Online-Publikation des Stadtarchivs nachlesbar, damals weder vom lokalen Medium noch von der Stadtgesellschaft geschätzt. Man hatte sich lieber damit beschäftigt, sich gegenseitige Persilscheine zur Entnazifizierung auszustellen.

Eine Fehlstelle in der Geschichte Heilbronns befindet sich direkt neben dem Rathaus, im Haus Lohtorstraße 22. Es gehört der Stadt, in ihm sitzen heute ihre Ordnungshüter. Etwa 1000 Jahre zuvor lebte dort Rabbi Nathan: Der "Nathan-Stein" bezeugt es, er steht im Stadtarchiv. Eine Replik des Steins, aufgestellt am Ursprungsort, würde die jüdische Geschichte der Stadt jederzeit und für jedermann sichtbar machen und wäre nicht so leicht zerstörbar wie eine Fahne.

Info: Eine kurzfristig für Freitagnachmittag angemeldete Pro-Palästina-Demo ist von der Stadt verboten worden. Da laut einem Bericht der Heilbronner Stimme mit 1000 Teilnehmern gerechnet worden war, waren präventiv dennoch zahlreiche Polizisten vor Ort, stellten Absperrgitter auf und bereiteten sich auf einen möglichen Einsatz vor. Es kam aber laut Polizei weder zu einer Spontan-Versammlung noch zu Zwischenfällen.

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