Sinsheimer "Spurensuche": Landstädtchen erblüht im perfekten Chaos

Sinsheim, wie man es sich im kühnsten Traum kaum denken kann, entsteht beim Projekt "Spurensuche"

16.05.2016 UPDATE: 17.05.2016 06:00 Uhr 1 Minute, 47 Sekunden

Neue Blickwinkel: Detlef Krispien, Leiter der Musikschule, war mit zwei Orchestern am musikalischen Grenzgang beteiligt. Foto: Schramm

Von Tim Kegel

Sinsheim. Avantgarde an der Elsenz. Es ist eines der kühnsten und spannendsten Projekte, die das heitere Landstädtchen seit langem erlebt hat: Für "Spurensuche Sinsheim - was bleibt" liefen in den Tagen vor Pfingsten Ton- und Filmaufnahmen. Bekannte Akteure und Orte, völlig neue Klänge und Bilder. Im Oktober wird die Performance, die das Netzwerk Neue Musik gemeinsam mit dem städtischen Kulturamt vorbereitet, ein einziges Mal aufgeführt und kommt dann auf einer "Golden Harddisk" für 20 Jahre unter Verschluss. Erst 2036 wird sie dann noch einmal gezeigt.

So viel ist bekannt: Bei den Drehs und Proben im gymnasialen Musiksaal, in der Badewelt, im Rathaus, der Stadtbibliothek ließ sich nun erahnen, in welche Richtung das Projekt geht. Fest steht, dass sich in 20 Jahren vieles verändern wird: Der Schulchor wird in alle Winde verstreut sein, der Jugend süßer Vogel wird verfliegen. Einige der Akteure werden inzwischen alt oder tot sein - einiges wird bleiben, wie es damals, wie es immer war. Das große Rad wird sich weiterdrehen unter Steinsberg und Stiftsturm. Ja, die sentimentale Komponente, "die gibt’s", sagt Christoph Ogiermann aus Bremen, so etwas wie der künstlerische Leiter des Projekts. Aber alles ist das nicht: Botschaften wurden gedreht mit Leuten, die man kennt: Stadträtin Annerose Hassert, Reijo Winkler vom Würfeltheater und viele andere wünschen, sinnieren, kritisieren, machen aber auch Scherze übers jetzige und künftige Sinsheim.

Christoph Ogiermanns Arbeitsweise ist genauso präzise wie unkonventionell. Es lohnt sich, diesen Namen zu googeln und sich einige Videos von Ogiermanns Schaffen anzusehen: Er organisiert perfektes Chaos, sucht den Ton, den es nicht gibt, nach der "Spannung, die nicht aufhört", der Entspannung durch Gegenspannung, wie er sagt. Klingen tut das entfernt wie Stockhausen oder nach den weltbekannten Klängen im Film "Der Exorzist". Man muss sich einlassen, um in den grotesken Ton- und Bildfolgen Schönheit und Methode zu erkennen.

Aber das geht. Gut sogar. Erwin Schaffer, Maestro des Vokalensembles, Musikschulleiter Detlef Krispien oder Soundbastler Karl Schramm haben Ogiermann sofort verstanden. Die vier Vollprofis in Interaktion zu erleben, umringt von Handmikrofonen und Tonabnehmern hat fast etwas mystisches. Wilhelmi-Chor und Vokalensemble, Stadtkapelle und Musikschulorchester bekommen eigenartige Notenblätter: darauf Pausenzeichen, Tempi, aber auch Kringel, Pfeile und Worte wie "kleiner Belfer". Erwin Schaffer dirigiert Atmen, kleine und große Schreie, ironisch überhöhte Satzfetzen. Ogiermann dirigiert Schaffer: "Könnt ihr das noch mal machen, einfach leiser hintenraus, weniger gepresst, sondern offener?"

Eine neue musikalische und visuelle Ausdrucksform überzieht Sinsheim: "Ich mach’ so was ja öfter", freut sich Christoph Ogiermann: "Aber so konzentriert und fit wie bei Euch hab’ ich’s selten erlebt." Gerade die Arbeit mit Laien, die noch nie mit neuer Musik zu tun hatten, fördere oft die besten Ergebnisse zutage. Die Enttäuschung, die Petra Schüle, Kulturmacherin der Stadt, anzumerken war, "weil sich leider wenige getraut haben, mitzumachen" - kann Ogiermann ihr nehmen: "Ihr seid richtig, richtig gut."

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