Wiesloch

Wegen des Missbrauchs-Skandals wenden sich Ältere und Kirchgänger ab

Die Standesämter verzeichnen so viele Kirchenaustritte wie noch nie. Der katholische Missbrauchsskandal wird dabei oft als Grund angeführt.

02.02.2022 UPDATE: 03.02.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 23 Sekunden
Dunkle Zeiten: Dreimal mehr Austritte als in den Vorjahren sind derzeit etwa in Walldorf zu verzeichnen. Und davon ist vor allem die katholische Kirchengemeinde betroffen. Foto: Pfeifer

Von Anja Hammer

Region Wiesloch. Aus allen Standesämtern die gleiche Auskunft: Die Zahl der Kirchenaustritte explodiert derzeit. Zwar kehren schon seit Jahren immer mehr Menschen den Kirchen den Rücken. Doch was seit Jahresbeginn auf den Standesämtern los ist, ist beispiellos. "Das Dreifache als sonst", heißt es etwa aus dem Walldorfer Rathaus. "Überdurchschnittlich viel", stellt die Mühlhausener Standesbeamtin Ute Weiss fest und: "Alle sagen, es liegt am Missbrauchsskandal." Und die Pfarrer sind frustriert.

Was auffällt: Die Beweggründe haben sich geändert. "Früher waren es meistens die Jungen, die sind aus finanziellen Gründen ausgetreten", berichtet Angelika Schäfer vom Walldorfer Standesamt. Jetzt seien viele Ältere, viele Kirchgänger dabei. "Man merkt ihnen an, dass sie schwer mit sich ringen", so Schäfer. Doch viele wollten die jüngsten Enthüllungen in der Katholischen Kirche nicht mehr mittragen. Das Ergebnis: Allein im Januar gab es 38 Austritte. "Etwa 85 Prozent davon sind Katholiken", weiß Schäfer. In den Vorjahren waren es im Januar jeweils zwischen 13 und 15 Austritte.

Von circa 95 Prozent Katholiken spricht der Dielheimer Standesbeamte Uwe Bender. Auch bei ihm kommen die Menschen ins Erzählen und führen den Missbrauchsskandal an. "Und wenn dann noch ein ehemaliger deutscher Papst lügt, dann gibt das der Sache auch noch mal einen Schub", so Benders Eindruck. In Zahlen bedeutet das: Am gestrigen Mittwoch hat er Kirchenaustritt Nummer 22 in diesem Jahr beurkundet. Im gesamten letzten Jahr waren es rund 120, in den Vorjahren immer zwischen 60 und 70.

In Wiesloch ist die Entwicklung ähnlich: 122 Austritte waren es 2016, 2019 dann schon 239 und 2022 scheint ein neuer "Rekord" in Sicht: 53 waren es in den ersten Wochen dieses noch jungen Jahres. Und dann hören die Standesbeamten eben Sätze wie: "Wenn ein deutscher Papst lügt" oder "Ich habe Enkelkinder".

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Das sei ein großer Unterschied in diesem Jahr, berichtet Ute Weiss aus Mühlhausen: Von den 25 Austritten im Januar habe sich jeder mitteilen wollen. In den letzten Jahren dagegen, als die Zahlen zwischen 72 und 86 lagen, habe kaum einer einen Grund genannt, so Weiss. Letztes Jahr sei die Zahl dann schon auf 135 Austritte – 96 davon katholisch – gestiegen und die Termine seien zunehmend emotionaler geworden. In Malsch kehrten letztes Jahr 36 Katholiken der Kirche den Rücken (2020: 17, 2019: 29) und in Rauenberg 67 (2020: 45, 2019: 49).

Elke Ott, Standesbeamtin in St. Leon-Rot, erzählt von 101 Austritten 2018, 152 im letzten Jahr und allein 33 im laufenden Jahr. Ihre Beobachtung: "Es geht nie um die örtlichen Pfarrer und Angebote", so Ott. "Es geht um die Oberen." Und wohl deshalb sagt Michael Hettich, der leitende Pfarrer der Seelsorgeeinheit Walldorf-St. Leon-Rot: "Wir sind machtlos." Zwar schreibe man die Ex-Katholiken an, lade zum Gespräch und frage nach den Gründen für den Austritt. Bei den wenigen Antworten werde immer wieder der Missbrauchsskandal genannt. Das alles sei für ihn und sein Team aber auch ein Ansporn, ein positives Bild von Kirche zu zeichnen. Hettich: "Andere Möglichkeiten haben wir nicht."

Sein evangelischer Kollege aus Walldorf, Uwe Boch, der letztes Jahr 79 Austritte zu verzeichnen hatte, sagt: "Das sind alles erwachsene Menschen, die haben eine Entscheidung getroffen und die muss ich akzeptieren." Er glaubt nicht, dass die evangelischen Austritte etwas mit dem katholischen Missbrauchsskandal zu tun haben. Seine Kollegin Sandra Alisch, die für Rauenberg, Malsch und Rettigheim zuständig ist, ist da anderer Ansicht: "Wenn bei der Katholischen Kirche etwas ist, treten sie auch bei uns aus." Das sei zwar oft nicht der Grund, aber der Anlass. Deshalb konzentriert sie sich auf diejenigen, die noch in der Kirche seien: "Für die will ich da sein und denen will ich gute Angebote machen." Klemens Dittberner, evangelischer Pfarrer in Mühlhausen und Tairnbach, hat trotz sinkender Zahlen noch nicht aufgegeben. So besuche etwa die Kirchenälteste Familien mit einem Neugeborenen und bringe ein Geschenk vorbei; er halte während der Pandemie auch mal Taufen am Waldangelbach oder bei den Familien zu Hause ab. "Das ist mein Ansatz", so Dittberner. "Aber so wirklich können wir nichts gegen die Austritte tun."

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