Wiesloch

"Man muss alles tun, damit solche Taten nicht mehr vorkommen"

Der SPD-Abgeordnete Lars Castellucci spricht über die Aufarbeitung der Missbrauchsskandale. Die Ampel-Koalition will die vorhandenen Institutionen stärken.

02.02.2022 UPDATE: 03.02.2022 06:00 Uhr 4 Minuten, 30 Sekunden
Missbrauch in der Kirche
Archivfoto: Nicolas Armer/dpa/Archivbild

Von Timo Teufert

Wiesloch. Das Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München erschüttert gerade die Katholische Kirche. Auch die Politik in Berlin beschäftigt das Gutachten und grundsätzlich das Thema sexualisierte Gewalt. Im RNZ-Interview spricht der Wieslocher Bundestagsabgeordnete Lars Castellucci (SPD) über die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Institutionen wie der Kirche, was die Politik ändern muss und warum der Koalitionsvertrag der Ampel dafür gute Voraussetzungen bietet. Als Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD-Bundestagsfraktion ist Castellucci, der seit 2013 im Bundestag sitzt, schon länger mit der Thematik befasst.

Herr Castellucci, Sie beschäftigen sich politisch schon sehr lange mit den Themen Missbrauch und sexualisierte Gewalt. Was haben Sie gedacht, als Sie von den Ergebnissen des neuen Gutachtens aus München gehört haben?

Da war für mich eigentlich nichts Überraschendes mehr dabei. Außer, dass man viel über den emeritierten Papst lesen konnte. Das zeigt aber auch, dass die gesamte Organisation da drin hängt. Das war jetzt das fünfte Gutachten von insgesamt 27 Diözesen. Alle werden da nach und nach etwas veröffentlichen und das wird ein ganz quälender Prozess. Was mich schmerzt, sind die vielen offenen Wunden und das Leid, das Menschen erfahren mussten. Denn viele, die sich teilweise nach Jahrzehnten zu Wort melden, sehen nun, dass die mutmaßlichen Täter verstorben sind und niemand richtig Verantwortung übernimmt.

Kann man denn die Aufarbeitung vollumfänglich hinbekommen?

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Der SPD-Abgeordnete Lars Castellucci.

Die Aufarbeitung funktioniert derzeit ja ganz offensichtlich nicht und kann so, wie sie betrieben wird, aus meiner Sicht auch überhaupt nicht funktionieren. Von Seiten des Staates liegt die Problematik darin, dass das meiste so lange zurückliegt und Staatsanwaltschaften wegen Verjährung nicht tätig werden. Wir müssen aber genau an die Fälle ran, die lange zurückliegen. Und wir dürfen auch nicht nur das Hellfeld betrachten, indem Akten angeschaut oder ein paar Interviews geführt werden. Es gibt auch ein Dunkelfeld. Ich bin sicher: Die Gutachten bringen nur die Spitze des Eisbergs ans Licht.

Wie kann man das verbessern?

Ein großes Problem ist, dass es 27 unterschiedliche Vorgehensweisen gibt. Die jeweiligen Verantwortlichen sind dann immer dem Verdacht ausgesetzt, die eigene Amtszeit oder die eines wichtigen Vorgängers aussparen zu wollen. Das ist natürlich ganz ungut. Deshalb plädiere ich dafür, dass es einen einheitlichen Standard für diese Aufarbeitung in den Bistümern gibt, damit solche Vermutungen gar nicht erst aufkommen können.

Was können Sie, was kann die Politik da tun?

Ich habe in der letzten Wahlperiode sehr viele überparteiliche Hintergrundrunden und Einzelgespräche zu diesem Thema gehabt. Bei den Koalitionsverhandlungen waren wir deshalb sehr gut vorbereitet, denn auch in den anderen Fraktionen wussten die Kollegen schon, was als Themen gesetzt werden wird. So ist der Koalitionsvertrag der Ampel – in Hinblick auf das Thema Kinderschutz und den Umgang mit sexualisierter Gewalt – ein Quantensprung. Die eigentliche Aufgabe ist jetzt, das Vereinbarte auch umzusetzen.

Was haben Sie konkret vereinbart?

Es gibt einen unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexualisierten Missbrauchs. Für diesen Posten gibt es keine gesetzliche Grundlage, der wird immer wieder besetzt, aber freihändig sozusagen. Wir brauchen Sicherheit, dass es diese Institution auch weiterhin gibt. Daneben gibt es die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung. Sie muss in die Lage versetzt werden, dass sie das machen kann, was ihr Titel verspricht: nämlich aufarbeiten. Sie braucht einen klaren gesetzlichen Auftrag und Ressourcen dafür, diesen zu erfüllen. Bis jetzt ist diese Kommission ehrenamtlich und befristet bis 2023 tätig. Ich sehe aber nicht, dass wir bis 2023 sehr viel weiter kommen, wenn wir das in dem Tempo machen, wie wir das bislang erleben. Außerdem ist es notwendig, dass auch die Bundesländer Missbrauchsbeauftragte einsetzen.

Gibt es schon Ideen, wie man die Aufarbeitung umsetzen könnte?

Für das Hellfeld brauchen wir einen gemeinsamen Standard der Aufarbeitung. Meine Vorstellung ist, dass der unverbindliche Leitfaden, den die Aufarbeitungskommission herausgegeben hat und in dem sie beschreibt, wie Aufarbeitung stattzufinden hat, verbindlichen Charakter bekommt. Und dass die Kommission in die Lage versetzt wir, begleitend zu evaluieren. Wichtig ist auch das gesellschaftliche Signal, dass die Politik hinsieht. Wenn wir den unabhängigen Beauftragten und die Kommission gesetzlich fassen und eine Berichtspflicht gegenüber dem Deutschen Bundestag einführen, dann ist die parlamentarische Begleitung gewährleistet. Dann gibt es Zuständige in den Ausschüssen für dieses Thema und genau da müssen wir hin: Raus aus der freiwilligen Beschäftigung mit dem Thema, hin zu Strukturen.

Und was ist mit dem Dunkelfeld?

In Frankreich gibt es eine aktuelle Untersuchung, die davon ausgeht, dass seit 1950 rund 200.000 Menschen allein in Frankreich von sexualisierter Gewalt im Rahmen der Katholischen Kirche betroffen sind. Mit kleinteiligen Gutachten, in denen es um einzelne Fälle geht, decken wir nicht die gesamte Problematik auf. Deswegen bin ich dafür, dass es in diesem Bereich mehr Forschung gibt. Über kriminologische Institute, die dafür das geschulte Personal haben, um repräsentative Befragungen von Kindern und Jugendlichen zu organisieren. Dann hätten wir eine Einschätzung auf wissenschaftlicher Basis, mit welcher Dimension wir es zu tun haben. Das brauchen wir als Grundlage für eine nationale Strategie gegen sexualisierte Gewalt.

Ihre Parteifreundin Ingrid Matthäus-Maier hat in der Talkshow von Anne Will gesagt, dass die Politik die Kirche zu lange geschont habe. Sehen Sie das auch so?

Ja. Kardinal Marx hat bei der Veröffentlichung des Gutachtens gesagt, dass die größte Schuld für ihn darin liege, die Opfer übersehen zu haben. In den letzten zwölf Jahren wurden runde Tische gebildet, Kommissionen eingerichtet, ein Nationaler Rat gegründet und Gesetze verschärft. Aber wenn man einen Doppelstrich darunter zieht und fragt, ob das ausreichend gewesen ist? Dann muss man sagen, auch die Politik war da lange Zeit nicht bereit, stärker hinzuschauen. Und das müssen wir jetzt nachholen. Wir sehen, dass man die Aufarbeitung nicht alleine den jeweiligen Institutionen überlassen kann. Ihre Beteiligung ist aber wichtig, damit es einen Lernprozess gibt.

Im Moment steht beim Thema sexualisierte Gewalt vor allem die Katholische Kirche im Fokus. Aber das Problem beschränkt sich nicht nur auf die Kirche...

Sexualisierte Gewalt ist ein Thema der ganzen Gesellschaft. Es gibt sie in den Kirchen, im Sport, im Ehrenamt, in Heimen und leider vor allem auch in Familien und deren unmittelbarem Umfeld. Da müssen wir zu einer Gesamtstrategie kommen. Bei aller Kritik an den Kirchen: Sie gehen hier auch auf einem Weg voran, der anderen noch bevorsteht. Jetzt, mit den zunehmenden Veröffentlichungen, fassen viele Menschen Mut, ihre Geschichte zu erzählen. Die Aufarbeitungskommission bietet dafür im Internet auch eine Möglichkeit: "Geschichten, die zählen" heißt es dort. Das ist eine Chance, das Thema aus der Tabuzone zu holen.

Wie kann verhindert werden, dass Menschen weiter unter sexualisierter Gewalt leiden?

Entscheidend ist Präventionsarbeit. Man muss alles tun, damit solche Taten nicht mehr vorkommen. Hier wurde in den letzten Jahren viel getan. Viele Organisationen haben eigene Verhaltensregeln aufgestellt, für Mitarbeitende mit Kontakt zu Kindern werden erweiterte Führungszeugnisse eingefordert. Wichtig ist, dass man für mehr Sensibilität bei den Menschen sorgt, die mit Kindern umgehen. Damit sie Signale wahrnehmen können – ob als Trainer im Sportverein, als Lehrerin oder in der Kita. Es muss hingehört und hingeschaut werden – ohne dabei einen Generalverdacht zu entwickeln. Das ist gewiss nicht einfach und da muss es auch mehr Weiterbildung geben.

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