Pogromnacht-Gedenken in Wieslocher Rathaus

Das Unfassbare darf sich nicht wiederholen

OB Elkemann warnt vor sich wieder ausbreitendem Antisemitismus

11.11.2018 UPDATE: 12.11.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 28 Sekunden
Die Teilnehmer der Wieslocher Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht entzündeten an der ehemaligen Synagoge Friedenslichter. Foto: Jan A. Pfeifer

Von Anton Ottmann

Wiesloch. "In der Nacht weckte uns eine furchtbare Detonation. Es klopfte, jemand riss an unserer Korridortür. Mein Mann eilte hinaus mit bloßen Füßen, im leichten Nachthemd, und schon vernahm sein Ohr: Gestapo, aufmachen!" So erlebte vor 80 Jahren Jenny Bohrer, die Frau des Rabbiners im badischen Gailingen, die "Reichspogromnacht". Der Zeitzeugenbericht wurde bei der Gedenkfeier im Wieslocher Rathaus von Schülern des Ottheinrich-Gymnasiums vorgetragen.

Unter dem Vorwand, nach Waffen zu suchen, warfen die Beamten Bücher aus den Schränken und räumten Schubladen aus. Später trieben SA-Männer die jüdischen Einwohner in die örtliche Turnhalle und von dort aus durch das Dorf zur Synagoge, wo sie deren Brand und Einsturz miterleben mussten. Bevor sie wieder nach Hause durften, beschimpfte sie der Anführer in einer hasserfüllten Rede als "Lumpenpack und Wanzenbrut", das Deutschland in wenigen Wochen zu verlassen habe. Außerdem verkündete er, dass ihre Kinder nicht mehr mit den arischen zur Schule gehen dürften.

Was damals in Gailingen geschah, wiederholte sich in Variationen an vielen Orten. Von den Übergriffen in Sinsheim, Heilbronn, Karlsruhe, Freiburg und anderen Städten berichteten die Schüler der Bertha-Benz-Realschule. Auch in Wiesloch brannte die Synagoge. Die Schüler der Gerbersruh-Gemeinschaftsschule lasen die Namen der hiesigen jüdischen Mitbürger vor, die drangsaliert, gedemütigt und zur Auswanderung gezwungen oder gar ermordet wurden.

Zuvor hatten Schüler im Rathaus an das schreckliche Geschehen vor 80 Jahren erinnert. Foto: Jan A. Pfeifer

Auch wenn man bei den jährlichen Gedenkfeiern immer wieder an die schrecklichen Ereignisse erinnert wird, erschüttert das Unfassbare auch im Hinblick darauf, dass es erst der Anfang eines grauenhaften und massenhaften Mordens war. Mit Recht wies Oberbürgermeister Dirk Elkemann in seiner Ansprache darauf hin, dass sich die heute in Deutschland lebende Generation keine Schuld aufladen müsse, allerdings trage sie die Verantwortung, dass sich so etwas nicht wiederhole. In Wiesloch sei man sich dessen bewusst und erhalte ein Stück jüdische Kultur mit der Pflege des jüdischen Friedhofs und den Stolpersteinen in der Stadt, die jeweils an das Schicksal eines jüdischen Mitbürgers erinnerten.

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Elkemann wies darauf hin, dass Angriffe auf Juden zunähmen, wie der jüngste Amoklauf in einer Synagoge in den USA mit elf Toten und zahlreichen Verletzten zeige. Der Nährboden dafür seien Hass-Worte, die überall, auch in Wiesloch, wieder zu hören seien. Wenn jemand mit einer Kipa auf der Straße angefeindet werde, dann laufe in Deutschland etwas schief, und es sei erschreckend, in welchem Ausmaß sich Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft ausbreite.

Pfarrer Alexander Hafner von der katholischen Seelsorgeeinheit Wiesloch-Dielheim und Pfarrer Dr. Christian Schwarz von der evangelischen Petrusgemeinde Wiesloch betrachteten den Gedenktag ebenfalls als Mahnung für die Zukunft angesichts der weltweiten Tendenz zu autokratischen Regierungen. Sie lasen aus dem Buch des Autors Timothy Snyder "20 Lektionen für den Widerstand", der die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika auf das vorbereitet, was gestern noch unvorstellbar zu sein schien: einen Präsidenten, der das Gesicht der Demokratie verstümmelt.

Im Buch wird dazu aufgefordert, keinen vorauseilenden Gehorsam zu leisten und die Institutionen der Demokratie zu schützen, keine Parteien der "einfachen Lösungen" zu unterstützen, sich sozial und politisch zu engagieren, Bücher zu lesen und das Internet zu meiden, eine friedliche Sprache zu verwenden, an die Wahrheit zu glauben und noch vieles andere mehr. Der Autor lobt auch einen positiven Patriotismus mit Stolz auf die Errungenschaften der Demokratie und er fordert auf, "so mutig zu sein wie nötig".

Begleitet wurden die Wort-Beiträge von Heribert Eckert auf der Klarinette und Rainer Wagemann auf dem Akkordeon. Sie spielten sehr einfühlsam berührende jiddische Melodien und Werke von Bach, Händel, Mozart.

Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung gingen die Teilnehmer gemeinsam zum Ort der ehemaligen Synagoge und zündeten unter dem Geläut der Friedensglocke der evangelischen Stadtkirche Friedenslichter an.

Getrübt wurde die Feierstunde lediglich durch die überalterte Mikrofonanlage im Rathaus, wegen der die Zuhörer die Wortbeiträge akustisch kaum bis überhaupt nicht verstehen konnten - nicht nur in den hinteren Reihen. Das war dem denkwürdigen Anlass nicht angemessen.

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