Leimen/Sandhausen

"Manche Kinder durften keinen Fuß vor die Tür setzen"

Sozialpädagogen zum "Lockdown" und dessen Auswirkungen - Schulsozialarbeit in Krise erweitert

06.08.2020 UPDATE: 07.08.2020 06:00 Uhr 2 Minuten, 25 Sekunden
Melanie Rauth-Kästel und Tobias Metzger sorgen sich um das Wohl der Jugendlichen. Foto: privat

Von Lukas Werthenbach

Leimen/Sandhausen. Häusliche Gewalt, psychischer Druck, Vernachlässigung: Im Schatten der Schlagzeilen über milliardenschwere Hilfspakete zur "Rettung" der Wirtschaft heißt es im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie oft, dass den besonders unter der Krise leidenden Kindern die "Lobby" fehle. Während des "Lockdowns" im Frühjahr war es für die Sozialarbeiter der in Leimen ansässigen "Evangelischen Kinder- und Jugendhilfe Friedrichstift" besonders schwer, den Kontakt zu den jungen Menschen zu halten, die dafür nun umso mehr Unterstützung brauchen.

Die unter anderem für Schulsozial- und offene Jugendarbeit in Leimen, Sandhausen und Heidelberg zuständige Einrichtung ist für viele sozial schwächere Familien eine wichtige Anlaufstelle. Im Gespräch mit der RNZ erklären Friedrichstift-Geschäftsführer Tobias Metzger und die Bereichsleiterin für Schulsozialarbeit, Melanie Rauth-Kästel, dass sich wohl erst in einigen Monaten zeige, wie sich Unterrichtsausfall und Kontaktbeschränkungen auf Kinder ausgewirkt haben. Durch die Schulschließungen sei insgesamt "ein großer Bruch" entstanden, weil mit dem täglichen Unterricht, aber auch mit den Angeboten von Vereinen und anderen Organisationen, plötzlich die "Tagesstruktur" der jungen Menschen auseinandergebrochen sei. "Wir wissen von Schülern aus sozial schwachen Familien, die teilweise die Nacht am Computer durchgezockt und bis nachmittags geschlafen haben, dann gegessen haben und sich wieder schlafen legten", sagt Rauth-Kästel. "Manche Kinder durften nicht einen Fuß vor die Tür setzen, die Eltern haben in dieser für sie bedrohlichen Situation erst mal aus Fürsorge für ihre Kinder gehandelt." So hätten Mitarbeiter des Friedrichstifts einigen Schülern Unterrichtsmaterial nach Hause gebracht. Zudem gab es das tägliche Angebot, sich Unterlagen in den Jugendtreffs auszudrucken.

Hintergrund

Aus Sicht der Sozialpädagogen Tobias Metzger und Melanie Rauth-Kästel lässt sich nicht nur das Ausmaß der traumatischen Erlebnisse vieler Kinder in ihren Familien erst in einigen Monaten überblicken. Auch angesichts der schulischen Defizite

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Aus Sicht der Sozialpädagogen Tobias Metzger und Melanie Rauth-Kästel lässt sich nicht nur das Ausmaß der traumatischen Erlebnisse vieler Kinder in ihren Familien erst in einigen Monaten überblicken. Auch angesichts der schulischen Defizite befürchten sie ein böses Erwachen im Herbst.

"Kein Kind ist super durch diese Zeit gekommen", warnt Metzger. "Viele Eltern sehen das alles noch nicht so dramatisch, aber erst mal wird ja auch jeder Schüler in die nächste Klassenstufe versetzt." Die entstandenen Lernlücken würden wohl erst in den Monaten nach den Sommerferien zutagetreten und könnten dann für enormen Leistungsdruck und Frustration sorgen. "Ich will nicht schwarzmalen, aber die Ansicht, dass das in den nächsten Monaten nach den ganzen Unterrichtsausfällen ohne Weiteres funktioniert, halte ich für nicht ganz realistisch", so Metzger weiter.

Eigene Ohnmacht eingestehen

Eltern rät er, in den nächsten Wochen ihre Kinder genau im Auge zu behalten. "Es hilft auch, sich erst mal die eigene Ohnmacht einzugestehen. Es ist gut, wenn die Kinder merken: ,Okay, auch die Erwachsenen haben so eine Pandemie noch nicht erlebt.’" Denn einige Eltern würden sich unter Druck setzen und versuchen, souverän mit einer Situation umzugehen, die in Wahrheit niemand ohne Probleme "meistern" würde. Zudem sei es auch in den Ferien "nie ein Fehler, ein Buch in die Hand zu nehmen". Jedoch sei in dieser Zeit "nicht zu retten", was den Schülern seit März entgangen sei.

Derweil hofft man auch im Friedrichstift, dass kein zweiter "Lockdown" nötig wird. "Das darf so nicht noch mal passieren", sagt Metzger. "Sonst besteht die Gefahr, dass eine ganze Schülergeneration ruiniert wird." Allgemein dürfe man nicht erneut "blindlings in so einen Lockdown reinlaufen".

Auch wenn das Friedrichstift durchgehend "vom ersten Tag des Lockdowns bis heute" erreichbar gewesen sei: Die Einrichtung will in Zukunft ihre Angebote noch offensiver an die veränderten Bedingungen anpassen; Metzger sieht sich und seine Kollegen auch hinsichtlich technischer Ausstattung inzwischen besser vorbereitet, um mit Schülern in Kontakt zu bleiben. (luw)

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"Es gibt nun mal nicht in jeder Familie ein Tablet", betont Metzger. So sei es eine umso wichtigere Entscheidung der Stadt Leimen gewesen, Laptops an Schüler zu verteilen und deren Familien finanziell zu unterstützen. Ausdrücklich loben die diplomierten Sozialpädagogen auch die Gemeinde Sandhausen: "Hier hat die Verwaltung weitsichtig gehandelt, indem sie trotz angespannter Lage entschieden hat, die Schulsozialarbeit zum 1. September zu erweitern." Dies sei gerade in der aktuellen Zeit, wo die Kommunen nach Einsparmöglichkeiten suchen, nicht selbstverständlich: "Es gibt auch Gemeinden, die so etwas gerade auf Eis legen. Daher finde ich die Entscheidung der Sandhäuser umso bemerkenswerter", sagt Rauth-Kästel. "Das ist eine Investition in Problemlösungen."

Was die von ihnen betreuten Minderjährigen in der Zeit der Schulschließungen wirklich alles erlebten, könne man indes schlicht noch nicht sagen: "Da könnten wir momentan nur mutmaßen, uns fehlen die Fakten", meint die Schulsozialarbeiterin. "Aber wir nehmen an, dass hinter den Häuserfassaden einiges passiert ist, das wir erst in den kommenden Monaten merken werden", ergänzt Metzger. Dies hänge vor allem damit zusammen, dass man Zeit brauche, bis sich junge Menschen den Pädagogen überhaupt anvertrauen.

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"Die Jugendlichen sind sehr in sich gekehrt", so Rauth-Kästel, "sie kommen ja nicht am ersten Tag zurück in die Schule und erzählen uns gleich von ihren belastenden Erlebnissen zu Hause". Dabei sei während des "Lockdowns" ein zusätzliches Problem für Lehrer und Schulsozialarbeiter gewesen, dass sie einige Schüler nicht erreicht hätten. Die offenen Jugendtreffs wie das Sandhäuser Jukiz und der Leimener Basket waren ebenso wie die Schulen geschlossen. So blieb oft nur das Telefon: "Einige Eltern haben unsere Anrufe durchaus ignoriert", berichtet Metzger. Hinzu kämen häufig "sprachliche Probleme". "Wir haben alle Unterstützungsformate angeboten", berichtet Rauth-Kästel, "auch auf Instagram sind uns einige der Jugendlichen gefolgt".

Die gesamte Situation sei insbesondere ein "weiterer Krisenfaktor für Familien gewesen, in denen schon Probleme vorherrschten", so Metzger: "Da gab es unzufriedene Eltern, die Homeoffice und Home-Schooling unter einen Hut bringen mussten, hinzu kam zum Beispiel psychischer Druck durch Kurzarbeit oder die Angst um den Arbeitsplatz. Und die Kinder sollten eben keine Gleichaltrigen treffen." Zudem hätten auch die Spannungen zwischen den "Eltern untereinander" zugenommen. "Das alles birgt eine Menge Sprengstoff", meint Metzger.

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