Jahresbilanz in Weinheim

"Im Zweifel immer für die Gesundheit"

Das RNZ-Interview mit Oberbürgermeister Manuel Just in den und über die Krisenzeiten.

12.05.2020 UPDATE: 13.05.2020 06:00 Uhr 8 Minuten, 38 Sekunden
Trotz aller Geldsorgen geht OB Just derzeit nicht davon aus, dass die Stadt viele Projekte streichen wird. Bei Pflichtaufgaben gehe es eher um das Wie als das Ob, bei freiwilligen Leistungen verlängert sich hier und da die Zeitachse. Fotos: Kreutzer

Von Philipp Weber

Weinheim. Manuel Just (41) ist am heutigen Mittwoch genau ein Jahr im Amt. Eigentlich ist das schon Grund genug, ihn um ein Interview zu bitten. In Zeiten der Coronakrise bleibt indes kaum Zeit für den Rückblick: So ging es im RNZ-Gespräch um die Sorgen und Nöte der Kleinunternehmen, die Betreuung von Kindergartenkindern oder die Folgen, die die Krise für die Projekte der Stadt nach sich zieht. Just ist sich sicher: "Das wird uns noch Jahre beschäftigen."

Herr Just, Hand aufs Herz: Wäre das Amt des Weinheimer OBs für Sie erstrebenswert gewesen, wenn Sie gewusst hätten, was auf Sie zukommt?

Ja, klar! Ich habe mich ja nicht für Weinheim entschieden, weil ich dachte, dort könnte ich aus dem Vollen schöpfen, ohne mit Problemen konfrontiert zu werden. Ich habe mich für Weinheim entschieden, weil diese Stadt eine besondere Bedeutung für die Region hat. Sie hat eine Angebotspalette und ein Aufgabenspektrum – von der Wirtschaftsförderung über den Tourismus bis hin zur Bildungspolitik – von dem ich glaube, dass es mehr ist, als das, was ich bislang bespielen durfte. Auf ein Zeitfenster von acht Jahren, für das Bürgermeister in Baden-Württemberg gewählt werden, müssen Sie davon ausgehen, dass Sie Kontroversen ereilen. Auf acht Jahre gesehen, ist zum Beispiel die Drohung einer Rezession immer latent vorhanden. Die jetzige Situation ist eine besondere, weil sie freiheitliche Beschränkungen mit sich bringt, wie wir sie seit 1945 nicht kannten. Aber es hätte nie meine Entscheidung verändert, wenn ich gewusst hätte, dass diese Pandemie kommt.

Ganz konkret beschäftigt junge Familien gerade, wann die Kindergärten wieder aufmachen – und wie das funktionieren soll. Wissen Sie mehr?

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Das Kultusministerium plant ja, die Betreuung an den Kitas vom 18. Mai an schrittweise auszuweiten, in Richtung eines reduzierten Regelbetriebs auf bis zu 50 Prozent der Kinder. Details müssen die Landesverbände und Träger aber noch festgelegen. Ich persönlich weiß da aber auch nicht mehr als die Öffentlichkeit. Zu der Problematik möchte ich aber noch etwas sagen.

Bitte.

Wir haben großes Verständnis für die Nöte der Menschen, gerade im gewerblichen Bereich. Wir glauben auch, dass der weit überwiegende Teil der Leute sehr verantwortungsbewusst mit den Reglementierungen und Maßnahmen umgeht, deren Umsetzung nun wieder stärker in den Händen jedes Einzelnen liegt. Und ich glaube – auch wenn es organisatorisch schwierig wird–, dass zum Beispiel die Gastronomie die Wiedereröffnung hinbekommt. Da geht es um Erwachsene. Denen können Sie getroffene Entscheidungen erklären. Je kleiner die Kinder aber sind, desto schwieriger ist es. Ich habe einen vier Jahre alten Sohn. Ihm Abstandsregeln beizubringen, funktioniert – für ein paar Minuten. Aber das hält nicht auf Dauer, schon gar nicht, wenn Gleichaltrige spielen. Gott sei Dank ist das so! Kindergärten sind daher, was die Hygieneregeln angeht, meines Erachtens noch ein Problem. Das sage ich auch – oder gerade – in dem Wissen, dass die Einrichtungen Eltern entlasten, und viele darauf angewiesen sind. Das heißt: Einen Betrieb über die Notbetreuung hinaus, das sehe ich aus Infektionsgründen weiterhin kritisch.

Der Marktplatz am Sonntag: OB Just glaubt daran, dass die Gastronomen die Wiedereröffnung hinbekommen.

Werden die Kindergarten- und andere Gebühren für März und April nun gestundet oder gestrichen?

Wir haben die Gebühren – stand heute – ausgesetzt. Das bedeutet formaljuristisch, dass wir den Verzicht noch nicht erklärt haben. Das bleibt eine Entscheidung des Gemeinderats. Wir haben zwei mal 100 Millionen Euro vom Land für alle Kommunen bekommen. Das sind für die Stadt Weinheim zwei mal 307.000 Euro.

Für alle Ausfälle?

Bislang für alles. Wir gehen davon aus, dass ein bis 1,2 Millionen Euro an Einnahmen in den Kitas, über alle Einrichtungen hinweg, ausfallen. Die Landesgelder umfassen damit um die 50 Prozent dieser Ausfälle. Und in diesen 50 Prozent ist ja nur circa die Hälfte für die Kindergärten gedacht. Denn es gibt einen nach Kindern gewichteten Anteil bei den jeweils 307.000 Euro, und es gibt einen Anteil, der der Stärkung der kommunalen Infrastruktur gilt. Wenn ich den raus rechne, ist es noch weniger. Nicht inbegriffen sind zum Beispiel auch Ausfälle bei Büchereien und möglicherweise beim Strandbad. Dann haben wir eine Vielzahl an Einnahmen, bei denen wir davon ausgehen müssen, dass sie wegbrechen, nicht zuletzt die Gewerbesteuer. Und es gibt Verlagerungen bei den Ausgaben. Wir mussten I-Pads und Notebooks beschaffen, für Homeoffice-Arbeitsplätze. Diese Plexiglasscheiben mit den dazugehörigen Füßen hätten wir auch noch in großer Anzahl kaufen sollen (er deutet auf die Scheibe zwischen sich und dem Interviewer, Anm. d. Red.). Diese haben wir dann selbst gemacht, um zu sparen. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Es gibt noch keinen finalen Verzicht. Ich halte es für wichtig, dass die Kommunen im Land hier im Gleichschritt agieren. Wobei ich auch sage: Es wäre den Eltern schwer zu vermitteln, diese Gebühren zu erheben, selbst wenn es rechtlich möglich wäre.

Gemeinsam wäre die Gegenfinanzierung wohl auch eher zu klären.

Ja. Und stellen Sie sich mal vor, Schriesheim verzichtet, aber Ladenburg und Heddesheim nicht – oder umgekehrt. Ich weiß nicht, ob das politisch klug ist. Es muss gemeinsam diskutiert werden. Daher wäre ich mehr als dankbar, ja, eigentlich ist es schon eine verstärkte Bitte, wenn da mehr kommt von Bund und Land. Ich rede von einem Rettungsschirm. In Weinheim gehen wir allein bei der Gewerbesteuer von Ausfällen in einem zweistelligen Millionenbereich aus. Wir haben 38 Millionen Euro veranschlagt. Wenn wir von zehn Millionen Euro, dem niedrigsten Betrag ausgehen, wären wir noch bei 28 Millionen Euro, bei einem Haushaltsdefizit von heute rechnerisch fünf Millionen Euro. Hinzu kommt die halbe Million aus den Gebührenausfällen. Und, und, und. Wir reden über Beträge, die die Kommunen so gut wie nie alleine auffangen können.

Im Gemeinderat wurde am Mittwoch intensiv darüber diskutiert, die Betreuungsgebühren an den Einkommen der Eltern auszurichten, nicht an der Zahl der Kinder in einer Familie. Warum soll der Chefarzt mit vier Kindern nicht mehr zahlen können als die alleinerziehen Mutter mit einem oder zwei?

Ich bin da final noch nicht festgelegt. Aber wir müssen genau hinschauen. Es gibt unterschiedliche Definitionen von Sozialstaffelung. Was Sie beschreiben, ist nachvollziehbar. Man kann aber auch sagen, dass wir schon eine soziale Staffelung haben. Schon heute gilt: Je mehr Kinder in einem Haushalt leben, desto weniger müssen sie zahlen. Vielleich ist das andere System noch gerechter. Darüber würde ich im Gemeinderat gern diskutieren. Ich bin aber immer zurückhaltend, wenn wir für die Ermittlung von Einkommen einen Aufwand betreiben, der ein, zwei Kräfte mehr bindet. Es kostet uns rund 80.000 bis 100.000 Euro mehr, und fünf oder zehn Prozent zahlen weniger. Wenn ich als Stadt am Ende auf der Ertragsseite das Gleiche im Topf habe, aber es hat mich auf der Aufwandsseite 100.000 Euro mehr gekostet, dann habe ich etwas falschgemacht. Kurz: Man kann Gerechtigkeit am Einkommen festmachen, aber man muss wissen, dass die Überprüfung Geld kostet. Auch diese Kosten müssten meines Erachtens umverteilt werden.

Es bleibt also eine Frage des Standpunkts.

Ich kann die Eltern schon verstehen. Schule kostet sie nichts in Baden-Württemberg. Aber für die Betreuung der Kinder in Krippe und Kindergarten zahlen sie einen Haufen Geld. Und dann sehen wir, dass andere Länder möglicherweise nichts erheben, im schlimmsten Fall aber noch im Länderfinanzausgleich profitieren. Das führt zu einem Ungerechtigkeitsempfinden. Eigentlich gehört das auf Landesebene gelöst. Aber auch dort muss das Geld irgendwo herkommen. Auch hier die Kurzfassung: Im besten Fall müsste das Land zahlen. Ob wir dahin kommen, wage ich aber zu bezweifeln. Ich will mich der Diskussion hier vor Ort nicht entziehen, aber ich habe die Vermutung, dass wir Kosten produzieren, die an anderer Stelle gezahlt werden müssen.

Sie haben die enormen Ausfälle durch die Coronakrise nun mehrfach erwähnt. Welche Projekte bleiben für Sie alternativlos?

Auch hier entscheidet der Gemeinderat. Aus meiner Sicht ist alles alternativlos, was angestoßen ist und läuft. Stichwort: Schulzentrum West. Es wäre völlig unrealistisch, diese Baustelle anzuhalten. Alternativlos sind auch Pflichtausgaben. Daher habe ich mich letzten Mittwoch dafür starkgemacht, das Projekt an der Markuskirche mit dem dazugehörigen Kita-Neubau nicht zu verschieben. Die Kinder kommen. Und wir sind verpflichtet, sie zu betreuen. Wenn Bedarfe und Pflichten da sind, geht es um das Wie, nicht das Ob. Über Dinge, die wir freiwillig machen und für die zweite Jahreshälfte geplant hatten, müssen wir diskutieren. Das heißt nicht, dass all diese Projekte gestrichen sind. Wir müssen in vielen Fällen über die Zeitachse reden.

Dinge wie verbesserte oder neue Treffpunkte in Ortsteilen wie Lützelsachsen oder Oberflockenbach werden geschoben?

Konkret absehbar ist das bei zwei Projekten, vorbehaltlich entsprechender Ratsbeschlüsse: Die Zukunftswerkstatt ist das eine. Hier ist die gemeinsame Diskussion ja ein Kernelement, das mit Kontaktbeschränkungen schwer umsetzbar ist. Daher werden wir wohl erst am Ende des Jahres eine Ausstellung eröffnen, um die Menschen thematisch heranzuführen. Die eigentliche Arbeit beginnt dann wohl erst 2021. Beim zweiten Projekt fällt es mir noch schwerer: Die Großsachsener Straße in Oberflockenbach steht zur Sanierung an, die ist fällig. Auch da gehe ich nicht davon aus, dass wir dieses Jahr noch beginnen können.

Das wird den Anwohnern wenig Freude bereiten, was mich zu der Frage führt, wann Ihrer Einschätzung nach den Bürgern der Geduldsfaden reißt.

Wir haben gerade die erste Infektionswelle erlebt. Wir müssen davon ausgehen, dass eine zweite kommt, vielleicht eine dritte. Wenn damit nur geringe Einschränkungen einhergehen, bekommen wir es noch hin. Wenn wir aber im großen Stil Lockerungen zurücknehmen müssen, weiß ich nicht, ob das auf Akzeptanz stößt. Wir müssen im Zweifel jedenfalls immer für die Gesundheit der Menschen entscheiden. Die muss über allem stehen. Auch in dem Wissen, dass nicht selten wirtschaftliche Existenzen daran hängen. Aber wir sind alle keine Virologen, wir können nicht abschätzen, was passiert, wenn wir uns gegen deren Empfehlungen stellen.

Viele Selbstständige und Gewerbetreibende haben jetzt schon Probleme. Gab es einen Hilferuf, der Sie besonders bewegt hat?

Es waren schon einige. Wir haben Branchen wie die Gastronomie, Reisebüros oder den Veranstaltungsbereich. Diese haben existenzielle Sorgen. Zu wissen, dass wir mit Unterstützungen oft nur den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein beitragen können, das ist schon schwer. Das war der Grund, weshalb wir bei unseren eigenen Immobilien auf Miete und Pacht verzichtet haben. Das ist ein kleiner, symbolischer Beitrag, der vielleicht an der einen oder anderen Stelle eine gewisse Vorbildfunktion entfacht. Ich darf aber nochmals betonen, dass es nicht um Vermieter oder Verpächter geht, die selbst Kredite bedienen müssen. Und auch nicht um das alte Mütterchen, das ihre karge Rente aufbessert. Jeder darf sich hinterfragen, ob er es sich leisten kann.

Auf diese Mieten haben Sie endgültig verzichtet?

Ja, für März und April. Das fällt in den Geschäftsbereich der Verwaltung. Es sind keine Beträge, die unseren Haushalt retten würden.

Wenn Sie heute noch Kultus- und Sportministerin Susanne Eisenmann treffen würden: Was würden Sie ihr sagen?

Ich würde Sie inständig darum bitten, dass die Kommunen bei Entscheidungen auf der Landesebene den Vorlauf bekommen, den sie benötigen. Klar ist: Ich bin überwiegend zufrieden mit dem, was vom Land kommt. Auch dort stehen die Entscheider unter Druck. Aber wir hatten nun schon ein, zwei Mal die Situation, dass wir kurz vor dem Wochenende eine Entscheidung bekommen haben, die wir über diese Zeitachse hinweg nur schwerlich umsetzen konnten. Und da geht es nicht darum, dass mein Haus den Freitagnachmittag lieber im vorgezogenen Feierabend verbracht hätte. Es geht darum, wie wir über diese Tage die Menschen erreichen. Firmen und Geschäfte haben sonntags zu, und montags steht in der Zeitung, dass es eine Lockerung mit Auflagen gibt. Man kann so etwas nicht über Nacht organisieren. Dieses Problem zieht sich wie ein roter Faden durch die Krise, dass wir Maßnahmen nicht flankieren können.

Das hat im Allgemeinen aber auch damit zu tun, dass Bund und Länder sich meist Mitte der Woche abstimmen, ehe die Länder für sich aktiv werden.

Das stimmt. Auch im Bund braucht es ja gewisse Vorläufe: Ich erinnere mich an das Wochenende vor den Schulschließungen. Da kamen damals donnerstags alle ranghohen Politiker im Kanzleramt zusammen. Aber erst Freitagmittags, 14 Uhr, trat Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor die Kameras und kündigte an, was am Dienstag passieren solle. Hier in Weinheim brachen alle Dämme, weil Schulleitungen, Eltern und Lehrer merkten, dass die Sache gefährlich wird. Aber sollten wir die Kinder dann am Montag noch mal in die Schulen schicken? Das konnten Sie niemandem vermitteln. Wir haben dann geprüft, die Schulschließung um einen Tag vorzuziehen. Das war ein Gewaltakt. Wir saßen den ganzen Samstag im Rathaus. Bei so vielen Schulen in der Stadt ist die Frage, wie man das abstimmt. Da waren die Meinungen verschieden, auch in der Frage, wie man mit Familien umgeht, die für den Montag noch Betreuung brauchen. Dieser Vorlauf fehlte auch bei der Wiedereröffnung der Spielplätze, die mich ja sehr gefreut hat. Aber niemand sagte uns, wie wir um die 70 Spielplätze gleichzeitig entsperren sollen.

Wenn die Pandemie von heute auf morgen enden würde: Was würden Sie als Erstes tun?

Als Erstes? Als Privatmann freue mich am meisten darauf, mich wieder mit Freunden zu treffen und den größeren Kreis der Familie wiederzusehen. Im Amt freue ich mich ebenfalls am allermeisten auf den Kontakt mit den Menschen. Ich bin Bürgermeister geworden, weil ich mein und unser unmittelbares Lebensumfeld positiv beeinflussen will. Und das kann man nur dann, wenn man mit dem Ohr bei den Leuten ist. Das geht jetzt auch mit den digitalen Medien, und das ist eine große Errungenschaft. Dennoch ist es etwas anderes, wenn Sie den Menschen auf Spaziergängen begegnen, wenn Sie in der Stadt, auf der Hauptstraße, am Marktplatz, in den Ortsteilen unterwegs sind und Zurufe bekommen. Das fehlt mir gerade am stärksten.

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