"Hirschberger Erbschätze"

Mit 18 Leuten unter einem Dach gewohnt

Erinnerungen an die Kriegszeit: Martin Stöhrer und die zwei großen Bücher seines Vaters.

04.11.2022 UPDATE: 04.11.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 58 Sekunden
Fast wäre Martin Stöhrers Familie nach Brasilien ausgewandert. Sein Vater hatte sich dort sogar schon auf eine Pfarrstelle beworben. Doch es kam anders. Dokumentiert ist das in zwei Büchern, die Hermann Stöhrer seinem Sohn hinterlassen hat. Foto: Dorn

Von Marco Partner

Hirschberg-Leutershausen. "Ei- gentlich müsste ich ja in Brasilien leben", sagt Martin Stöhrer, und blickt in ein großes Buch mit hellblauem Stoffeinband. Der 88-Jährige ist selbst als "wandelndes Geschichtsbuch" bekannt und weiß viel um die Historie von Leutershausen und Großsachsen. Im hohen Alter aber beschäftigt sich der frühere Schulleiter wieder intensiv mit dem Leben seines Vaters. Der wollte Mitte der 1930er-Jahre die Zelte in Deutschland abbrechen und mit der Familie nach Südamerika übersiedeln. "Er hatte es nicht so mit dem Dritten Reich", sagt sein Sohn. Doch es sollte anders kommen.

Zwei große Bücher hat Vater Hermann Stöhrer seinem Sohn hinterlassen. Darin ist dokumentiert, wie der Pfarrer ein paar Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Brasilien auswandern wollte. "Damals war das eine regelrechte Bewegung unter evangelischen Pfarrern, er hatte sich sogar schon auf eine Pfarrerstelle in Brasilien beworben", erklärt Martin Stöhrer. Doch die Sache hatte einen Haken. Zunächst musste der Geistliche einen Wehrdienst absolvieren. 1937 wurde er dafür eingezogen, damals war Sohn Martin gerade einmal vier Jahre alt. Zwei Jahre lang konnte er seinen Vater kaum sehen. Dann folgte der Krieg, und statt nach Brasilien, musste der Pfarrer als Vermessungsoffizier der Artillerie einmal quer durch Europa. Nach Frankreich, Jugoslawien, bis nach Russland.

Vieles weiß Stöhrer aus Erzählungen seiner Eltern. Und schöpft natürlich auch aus seinem sehr guten Erinnerungsvermögen. In Fahrenbach am Rande des Odenwalds ist er mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Der Vater war weg, aber das Pfarrhaus voll. "Wir haben damals viele Geflüchtete aufgenommen", sagt Stöhrer. Doch die Kriegsflüchtlinge kamen damals nicht aus der Ukraine, Syrien oder Afghanistan, sondern aus Karlsruhe, Mannheim oder Berlin. Aufgrund des Ukraine-Kriegs, aber auch schon zur Flüchtlingsdebatte 2015/16 fühlte sich Stöhrer erinnert und fragte sich: Wie war das damals eigentlich?

Die Aufzeichnungen seiner Eltern sind ihm dabei eine große Hilfe. Denn der Vater führte in seinem Pfarrkalender ein Kriegstagebuch. Auch damalige Briefe zwischen dem Vater und der Mutter sind heute ebenfalls in einem dicken Band zusammengetragen. "Sie haben alles aufgehoben", erklärt Stöhrer.

Und so hat er es heute schwarz auf weiß: "Mit 18 Leuten haben wir während des Kriegs unter einem Dach gewohnt, da waren 50 Zentner Kartoffeln schnell weg. Das Wohnzimmer wurde mit Stroh und Decken ausgelegt, und alle haben zusammen gearbeitet. Auch ein Oberstleutnant hat bei uns gewohnt und ein Arbeiter aus Berlin, der in Neckarelz in einem Bergstollen schuf- tete. Den haben wir den Alleskönner genannt", sagt Martin Stöhrer. Dass sein Vater den Krieg nur mit viel Glück überlebte, erfährt er erst später. Die Freude, als der Pfarrer aus der Gefangenschaft kommt und durch die Straßen Fahrenbachs läuft, lässt sich auch heute noch nachlesen.

"Die Nachbarin flog geradezu hinauf zu den Eichhecken, um die Kunde von der überraschend schnell erfolgten Heimkehr des ‚Herrn Pfarrer‘ zu überbringen. Welche Freude, welcher Jubel! Nun waren – dank Gottes gnädiger Führung und Bewahrung – nach sechs Jahren Trennung wir alle wieder beisammen. Frieden!", heißt es in den Büchern.

Auch nach dem Krieg nahm die Pfarrerfamilie Geflüchtete auf. Stöhrer erinnert sich an eine Frau aus Ungarn, die ein großes Fass bei sich hatte. Wie sie es bis in den Odenwald gebracht hat, ist ihm im Nachhinein schleierhaft. Was sich darin befindet, interessierte ihn damals viel mehr. Einmal öffnete sie es vor seinen Augen. Weißes Fett kam darin zum Vorschein. Nicht so appetitlich, doch darunter war es gefüllt mit herzhaftem Schinken, der mit all den anderen Geflüchteten aus nah und fern geteilt wurde. "Es war ein guter Umgang", denkt Stöhrer daran zurück, wenn heute über Flüchtlinge debattiert wird. "All Fehde hat nun ein Ende. Für immer?", liest er weiter. "Eigentlich sollten die Völker das inzwischen gelernt haben, einträchtig beieinander zu wohnen und miteinander zu leben", schrieben die Eltern nach dem Krieg.

Als er 15 Jahre alt war, vier Jahre nach dem Krieg, zog die Pfarrerfamilie nach Großsachsen. Heute stöbert Stöhrer gerne in den hinterlassenen Büchern seiner Eltern. Und erinnert sich an eine Briefträgerin, die gebeugt durch die Straßen lief, um schicksalhafte Meldungen zu überbringen. "Man hatte es ihr schon von Weitem angesehen, obwohl sie doch nichts dafür konnte, hat es sie stark belastet", hatte sich Martin Stöhrer schon als Elfjähriger in sie hineingefühlt, wie das sein muss, Träger trauriger Kunde zu sein. Vielleicht ist er ja deshalb später Pädagoge und Schulleiter der Bach-Förderschule in Weinheim sowie eine "gute Seele" in vielen Vereinen geworden.

Das Leben ist eben voll prägender Momente, manche davon finden sich noch aufgeschrieben, in den beiden Büchern des Vaters. Der nach Brasilien wollte, doch das Schicksal hatte anderes mit ihm und seiner Familie vor.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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