"Versuchen unser Glück, bis wir sterben"
Die kurdische Familie will nach ihrer Abschiebung wieder nach Deutschland zurückkehren. Besonders die Söhne sehnen sich nach Eppelheim.

Von Lukas Werthenbach
Eppelheim/Istanbul. Die Abschiebung einer als gut integriert geltenden kurdischen Familie aus Eppelheim hat für empörte Reaktionen gesorgt. Die vier Gürels sprechen Deutsch, sie waren in Vereinen aktiv, die Eltern arbeiteten, zahlten ihre Miete selbst, der siebenjährige Alieren war kurz vor der Einschulung – doch dann stand wie berichtet morgens um 4 Uhr die Polizei vor der Tür, um die Familie nach zweieinhalb glücklichen Jahren in Eppelheim nach Istanbul abzuschieben. Von dort waren die Gürels 2018 vor Gewalt und Diskriminierung geflüchtet, die sie nach eigenen Angaben insbesondere wegen ihres alevitischen Glaubens erlebten. Einen Monat nach der Abschiebung hat die RNZ mit der Mutter Gülay Gürel gesprochen. Zum Schutz der Familie in der Türkei wird auf die Veröffentlichung ihrer Antworten zu religiösen und politischen Fragen verzichtet.
Hintergrund
Aleviten bilden mit geschätzten 15 Prozent der Bevölkerung die zweitgrößte Religionsgruppe der Türkei. Umstritten ist in der Forschung, ob es sich beim Alevitentum um einen Teil des schiitischen Islam, um eine separate islamische Glaubensrichtung oder um eine
Aleviten bilden mit geschätzten 15 Prozent der Bevölkerung die zweitgrößte Religionsgruppe der Türkei. Umstritten ist in der Forschung, ob es sich beim Alevitentum um einen Teil des schiitischen Islam, um eine separate islamische Glaubensrichtung oder um eine eigenständige Religion handelt. Bereits im Osmanischen Reich wurden Aleviten verfolgt; dies setzte sich seit der Ausrufung der türkischen Republik 1923 fort. So fielen 1937/38 im "Massaker von Dersim" mutmaßlich mehr als 10.000 kurdische Aleviten der türkischen Armee zum Opfer.
Der heutige türkische Staat ordnet die Religion den islamischen Glaubensrichtungen unter und verweigert ihre Anerkennung als konfessionelle Minderheit. Berichte über Anschläge auf Aleviten in der Türkei häufen sich seit rund 20 Jahren, eine Diskriminierung von Aleviten durch den türkischen Staat belegte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2016. Eine Hauptforderung der Aleviten ist die Anerkennung sogenannter Cem-Stätten als Orte der Religionsausübung, also eine Gleichstellung mit Moscheen. luw
Frau Gürel, wie geht es Ihrer Familie nach einem Monat zurück in der Türkei? Haben Sie eine eigene Wohnung?
Wir haben zwei Wochen bei der Mutter meines Mannes gewohnt, jetzt wohnen wir in einer Mietwohnung. In den letzten zwei Jahren ist es in Istanbul noch schwieriger geworden. Mein Mann und ich fühlen uns sehr schlecht.
Der Schmerz über die Abschiebung hat noch nicht nachgelassen?
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Selbst jetzt noch, wenn es an der Tür klingelt, haben wir unglaublich viel Angst. Es fällt mir der Tag ein, an dem die Polizei uns in Eppelheim kurz nach Mitternacht abgeholt hat. Die Kinder haben Angst, wenn sie ein Polizeiauto sehen. Unser ältester Sohn war sehr aufgeregt vor seinem ersten Schultag – und alle seine Träume wurden ihm plötzlich weggenommen.
Wie ging es seither Ihren Kindern Alieren und Ataberk?
Die Kinder sprechen nur von Deutschland und wollen das Haus nicht verlassen. Sie fragen uns immer, wann wir nach Deutschland gehen werden. Als Eltern tut es sehr weh, diese Fragen nicht zu beantworten.
Gehen Ihre Söhne in Istanbul schon in Kindergarten und Schule?
Ja, der ältere geht zweimal pro Woche zur Schule, der jüngere zweimal pro Woche in den Kindergarten. Wegen Corona ist das nur zweimal wöchentlich möglich. Aber die Schule ist muslimisch, also nicht alevitisch.
Wie sieht zurzeit Ihr Alltag aus?
Mein Mann arbeitet jeden Tag ungefähr 15 Stunden. Er ist nur sonntags zu Hause. Er verdient sehr wenig, aber er muss arbeiten, während ich auf die Kinder aufpassen muss. In der Türkei gibt es absolut kein Geld wie Sozialhilfe oder Kindergeld.
Glauben Sie, dass Sie irgendwann wieder zurück nach Deutschland können?
Wir wissen, dass es schwierig sein wird. Es wird lange dauern, aber wir glauben an Gott, dass wir eines Tages zurückkehren. Wir wollen legal zurückkehren und wir arbeiten daran. Wir wollen das mit einer Arbeits- oder Ausbildungsstelle schaffen. Und dafür müssen wir Geld sparen. Ich bin sicher, dass unsere Bewerbungen berücksichtigt werden. Einfühlsame Menschen werden uns helfen. Es gibt viele Leute in Deutschland, die für uns bürgen können, sie sind alle Deutsche. Wir wollen, dass unsere Kinder wieder nach Deutschland kommen. Wir versuchen unser Glück, bis wir sterben.
Verstehen Sie dennoch die deutschen Behörden, nach deren Ansicht Ihre Abschiebung gesetzlich alternativlos war?
Wir können darin keinen Sinn sehen. Es gibt so viele Menschen, die nicht arbeiten, die keine Sprachkurse besuchen und die sich nicht integrieren wollen. Aber die Behörden müssen sich dessen bewusst sein und eingreifen. Deutschland verdient ehrliche und anständige Menschen. Das deutsche Volk ist sehr respektvoll und ehrlich, was der größte Faktor für unsere schnelle Integration ist. Wir wollten einen Ort, an dem Menschen wie Menschen leben können, religiöse Freiheit und Wahlrecht haben. Das haben wir in Eppelheim gefunden. Wir haben es nicht verdient, auf diese Weise zurückgeschickt zu werden. Und der wichtigste Grund für unsere Einwanderung nach Deutschland war, dass die Rechte für Kinder, Frauen, alle Menschen gleich waren. Eine gute Ausbildung, eine unabhängige Justiz und vor allem Gerechtigkeit wollten wir haben.
Haben Sie noch Kontakt nach Eppelheim?
Alle unsere Freunde vermissen uns sehr. Wir stehen in ständigem Kontakt mit dem Fußballverein, dem Arbeitsplatz und Nachbarn. Viele Leute, die wir gar nicht kennen, kontaktieren uns. Niemand hat uns allein gelassen.