Gipsbergwerk Hermann Seidenstricker

Als NS-Rüstungsgüter in Seckach produziert wurde

Ereignisse aus Gipsstollen ans Tageslicht gebracht: Buchs "Als Sachsen in Seckach lag" von Simon Metz ist nur im Buchhandel und beim Landratsamt erhältlich.

24.11.2022 UPDATE: 24.11.2022 06:00 Uhr 3 Minuten, 4 Sekunden
Über das gelungene Buch „Als Sachsen in Seckach lag“ freuten sich (v. l.) Michael Kohler, Vertreter des Verlags Regionalkultur, Landrat Dr. Achim Brötel, Autor Simon Metz, Bürgermeister Thomas Ludwig und Kreisarchivar Alexander Rantasa. Foto: Liane Merkle

Seckach. (lm) Der Buchtitel "Als Sachsen in Seckach lag" klingt auf den ersten Blick geografisch verwirrend – er bezieht sich nicht auf das gleichnamige Bundesland, sondern auf den Decknamen des NS-Verlagerungsprojekts der Schweinfurter Kugellagerindustrie Fichtel & Sachs 1944/45 im Seckacher Gipsbergwerk Hermann Seidenstricker.

Für die Aufarbeitung dieser Zeit hatte der Neckar-Odenwald-Kreis mit Landrat Achim Brötel an der Spitze auf Vermittlung von Prof. Frank Engehausen vom Historischen Seminar der Universität Heidelberg den Historiker Simon Metz gewinnen können, dessen Arbeit als Band 9 in der Buchreihe "Beiträge zur Geschichte des Neckar-Odenwald-Kreises" im Verlag Regionalkultur in Ubstadt-Weiher, gedruckt von der Druckerei Laub aus Elztal-Dallau, nun in der Seckachtalhalle im Beisein zahlreicher interessierter Bürger und Ehrengäste übergeben wurde.

Selbst bereits gefesselt von dem 80 Seiten starken Werk mit 20 Bildern in hervorragender Qualität, zitierte Brötel den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker: "Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird."

Der Landrat begrüßte den Autor Simon Metz, Michael Kohler vom Verlag Regionalkultur, Gebhard Schmitt als Zeitzeugen und Manfred Glittenberg, die beide mit ihren Aufzeichnungen zum Thema wichtige Beiträge geleistet hatten, Bürgermeister Thomas Ludwig als interessierten Heimatforscher sowie den ebenfalls stark ins Projekt eingebundenen Kreisarchivar Alexander Rantasa.

Wie Brötel erläuterte, hatte Simon Metz seit dem ersten Zusammentreffen im Januar 2020 unter erschwerten Pandemiebedingungen mit viel Herzblut ans lang ersehnte Tageslicht gebracht, was sich vor 78 Jahren im Seckacher Gipsstollen ereignet und das Leben in Seckach von einem Tag auf den anderen stark verändert hat.

Auch interessant
Seckach: Neue Initiative für den Kindergartenneubau
Seckach: Kinder- und Jugenddorf Klinge und Dorfleiter trennen sich
Seckach: Jutta Biermayer will für den guten Zweck durch Israel radeln

Der Landrat gab ein kurzes Resümee zum Buch, das den Leser in die Endphase des Zweiten Weltkriegs zurückführt – zur Negierung der Kapitulation der Nazis in Stalingrad und den vermehrten Luftangriffen der Alliierten auf Industriestandorte, die Rüstungsgüter oder deren Vorprodukte herstellten. In Folge sah sich das NS-Regime veranlasst, seine Rüstungsproduktion unter Tarnnamen zu dezentralisieren oder sogar ganz unter Tage zu verlagern und für die Produktion und Vorbereitung der Stollen neben Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen auch KZ-Häftlinge einzusetzen.

Drei solcher Untertageverlagerungen gab es auch auf dem Gebiet des heutigen Neckar-Odenwald-Kreises: "Goldfisch", "Baubetrieb Neustadt" und "Sachsen". Sowohl das Projekt "Goldfisch" in Obrigheim (2018 in der Buchreihe "Beiträge zur Geschichte des Neckar-Odenwald-Kreises" von Tobias Markowitsch erschienen) als auch das Projekt "Sachsen" waren Teil des Untertageprogramms des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion unter der Leitung des schillernden Albert Speer.

Der "Baubetrieb Neustadt" im Gipsstollen in Neckarzimmern war mit "Sachsen" verbunden, weil an beiden Standorten Produkte der Schweinfurter Kugellagerindustrie gefertigt wurden. Eine direkte Verbindung zwischen "Goldfisch" und "Sachsen" bestand nach jetzigem Forschungsstand allerdings wohl nicht.

Für den überstürzten Aufbau einer Infrastruktur für die industrielle Kriegsproduktion eignete sich das beschauliche Seckach nicht nur wegen seiner Gipsstollen, sondern auch wegen des Eisenbahnknotenpunkts, der die Strecke zwischen Heidelberg und Würzburg in nördlicher Richtung mit Miltenberg am Main verband.

Ab Frühjahr 1944 musste die Heidelberger Gipsindustrie GmbH, die seit 1905 in Seckach Dünger und Baugips herstellte, deshalb ihre Stollen für die Untertageverlagerung von Teilen der Schweinfurter Firma Fichtel & Sachs zur Verfügung stellen.

Für Seckach änderte sich mit der Verlagerung das Dorfleben massiv. In der "Teufelsklinge" wurden Baracken zur Einquartierung von Zwangsarbeitern gebaut. Diese Baracken dienten nach dem Krieg zunächst den zahlreichen Heimatvertriebenen als Übergangslager und ab 1947 dann als Kinderheim der Caritas und bis heute als Teil des Kinder- und Jugenddorfs Klinge.

Autor Simon Metz selbst sah seine Arbeit ebenfalls als einen Teil der Seckacher Ortsgeschichte. Er dankte allen, die zum Gelingen des Buchs beigetragen hatten. Seit 2019 hat er sich intensiv mit dem Thema beschäftigt, im Gemeindearchiv Seckach, dem Kreisarchiv Neckar-Odenwald, dem Staatsarchiv Ludwigburg, dem Hauptarchiv Stuttgart sowie im Generallandesarchiv Karlsruhe und den Bundesarchiven Berlin und Freiburg, aber auch online und in diversen Literaturen geforscht.

Außerdem hat er überaus informative Gespräche mit den bereits genannten örtlichen Heimatforschern und Kreisarchivar Alexander Rantasa geführt und dabei einiges erfahren, was Licht ins Dunkel brachte.

In seinem Buch wird auch deutlich, dass in Seckach keine Kugellager gefertigt wurden, sondern die rund 3000 Zwangsarbeiter als Zulieferer für die österreichische Motorenfabrik dienten. Eine Tatsache, die selbst Hermann Seidenstricker lange nicht bekannt war.

Bürgermeister Thomas Ludwig dankte dem Autor für sein gelungenes Werk und allen, die an diesem wichtigen Forschungsbeitrag mitgewirkt hatten. Er selbst habe vor nicht allzu langer Zeit erfahren: "Seckach war, ist und bleibt eine Bergbaugemeinde." Denn obwohl der Stollen schon lange geschlossen ist, wird er sich immer auf die Gemeinde auswirken – ebenso wie die Bevölkerungsexplosion in den 1960er Jahren. Eine Tatsache, die der Autor bestätigte.

Mit der Übergabe des hochwertigen Zeitdokuments schloss Michael Kohler vom Verlag Regionalkultur die Arbeit von Autor Simon Metz unter dem Beifall der Gäste ab. Für den musikalischen Rahmen sorgten Nikola Irmai-Koppányi zusammen mit Nelli und Kristian Koppányi und Felicia Stromberger von der Musikschule Bauland. Ein Stehempfang mit zahlreichen informativen Gesprächen rundete die Buchvorstellung ab.

Info: Das Buch wird für 11,90 Euro im Buchhandel, aber auch beim Landratsamt erhältlich sein.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.