Tag der Befreiung 1945

Als Tausende KZ-Häftlinge auf den Straßen waren

Vor 75 Jahren: Ende des KZ-Komplexes Natzweiler mit der Außenstelle Neckarelz - Das "doppelte Ende" zog sich über Monate hin

07.05.2020 UPDATE: 08.05.2020 06:00 Uhr 3 Minuten, 4 Sekunden
Sechs befreite Häftlinge aus dem Krankenzug beim Bahnhof Osterburken in April 1945. Foto: Archiv der KZ-Gedenkstätte Neckarelz

Neckar-Odenwald-Kreis. (dr) Eigentlich sollte im April in vielen Gedenkstätten der großen Konzentrationslager die 75. Wiederkehr des Tages der Befreiung feierlich begangen werden. Doch die Coronakrise hat dazu geführt, dass die Gedenkfeiern in Buchenwald (9.4.), Bergen-Belsen (19.4.) oder Dachau (29.4.) abgesagt werden mussten und nur in ganz kleinem Rahmen stattfinden konnten.

Das Konzentrationslager Natzweiler, Stammlager von über 50 Außenlagern im deutschen Südwesten sowie im französischen "Grand Est", hat indes keinen "Tag der Befreiung" im eigentlichen Sinn. Vielmehr kann man von einem "doppelten Ende" des KZ-Komplexes sprechen, das sich über mehrere Monate, vom September 1944 bis Ende April oder gar Mai 1945 hinzog und an vielen unterschiedlichen Orten stattfand. Unsere Region spielte dabei eine herausgehobene Rolle.

Im Herbst letzten Jahres wurde in der RNZ vom "ersten Ende" des KZ-Komplexes Natzweiler berichtet. Dieses brachte im September/Oktober 1944 die vollständige Leerung aller linksrheinischen Außenlager und des Hauptlagers in den Vogesen. Alle Häftlinge wurden auf die andere Rheinseite transportiert – ins Lager Dachau oder in bestehende oder neu gegründete Außenlager. Die Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie ging danach unvermindert weiter.

In unserer Region entstanden in dieser Phase zu den drei bereits bestehenden Lagern Neckarelz I und II und Neckargerach noch drei neue: Asbach, Neckarbischofsheim und Bad Rappenau. Insbesondere aber wurden die Kommandantur des Hauptlagers nach Guttenbach und der SS-Verwaltungsstab nach Binau verlegt. Die beiden letzten Kommandanten von Natzweiler, die SS-Offiziere Fritz Hartjenstein und Heinrich Schwarz, befehligten von Guttenbach aus die noch bestehenden ca. 30 Außenlager, die immer noch unter dem Namen "Natzweiler" zusammengefasst waren. Von Guttenbach aus wurde im März/April 1945 dann das "zweite Ende" des KZ-Komplexes Natzweiler organisiert.

Das bedeutete, dass die Außenlager in Hessen, in Baden und Württemberg, je nach Vorrücken der Alliierten, eines nach dem anderen evakuiert wurden und die dort Inhaftierten sich in Richtung KZ Dachau, manche aber auch in Richtung KZ Buchenwald oder KZ Bergen-Belsen in Bewegung setzen mussten.

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Die Zeit der Evakuierungs- und Todesmärsche brach an, manche führten zu Fuß über weite Strecken und kosteten viele Opfer, doch gab es auch Zugtransporte oder eine Mischung aus beidem. Unter den Bedingungen der "Zusammenbruchsgesellschaft" des Kriegsendes und einer zunehmend unübersichtlichen Situation schwand allerdings die Macht der zentralen Kommandantur, die örtlichen Kommandanten oder die SS-Begleitmannschaften der Evakuierungsmärsche trafen häufig selbstständige Entscheidungen "nach Lage".

Arno Huth, stellvertretender Vorsitzender der KZ-Gedenkstätte Neckarelz, hat in seiner Dokumentation "Das doppelte Ende des K.L. Natzweiler" die vielen lokalen Einzelgeschichten zusammengefasst und auch eine Karte dieser Schlussphase gezeichnet. Sie zeigt Daten und Zahlen zu den Transporten, zu den Opfern und Fluchten. Damals öffneten sich die Stacheldrahtzäune, Tausende von abgemagerten und erschöpften Menschen wurden auf die Straßen getrieben und durchquerten den deutschen Südwesten. Stärker als vorher wurde nunmehr die Realität der Lager sichtbar.

In unserer Region gab es drei große Bewegungen: am 27. März 1945 brach eine Gruppe von knapp 300 Häftlingen vom Lager Neckargerach zu Fuß Richtung Dachau auf, sie kamen dort am 31. März an, weil sie, vermutlich am 30. März, für den größeren Teil der Fahrt einen Zug besteigen konnten.

Die große Mehrzahl der Häftlinge der Neckarlager, verstärkt noch um Gefangene aus Heppenheim, Mannheim und Bensheim-Auerbach, marschierte am 28. März 1945 in Neckarelz los. Etwa 2100 Männer waren als "gehfähig" eingestuft worden. Der Konvoi legte, eingeteilt in kleinere Gruppen, auch drei Marschetappen bei Nacht zurück. Ab Schwäbisch Hall wurde auch diese Gruppe per Zug weitertransportiert, 2007 Männer wurden am 2. April 1945 in Dachau registriert. Unterwegs hatte es Verluste gegeben: durch Erschöpfung, durch Bombenangriffe, aber auch durch vereinzelt mögliche Fluchten.

Die "nicht gehfähigen" Häftlinge der Neckarlager, etwa 850 Männer, wurden Ende März 1945 direkt in einen Zug gepackt, der Richtung Dachau fahren sollte, dort aber nie ankam. Nach einer zweitägigen Irrfahrt im Dreieck auf den teilweise beschädigten Bahnstrecken zwischen Neckarelz, Osterburken und Bad Friedrichshall kam der Zug schließlich am 31. März 1945, dem Karsamstag, in einer Wiese zwischen Adelsheim und Osterburken zum Stehen. In völliger Ungewissheit und fast ohne Nahrungsmittel verbrachten die Gefangenen dort vier Tage, bis sie am 4. April 1945 von amerikanischen Truppen befreit wurden. Insofern ist die Stadt Osterburken, einer der ganz wenigen großen "Befreiungsorte" des KZ-Komplexes Natzweiler. Allerdings starben rund um die Befreiung geschätzt 100 Häftlinge aus dem Krankentransport.

Die im KZ Dachau angekommenen Häftlinge des KZ-Komplexes Natzweiler erlebten, falls sie die Wochen im völlig überfüllten Lager überstanden, die Befreiung am 29. April 1945. Doch nicht alle blieben in Dachau – manche, darunter auch Häftlinge aus Neckarelz, wurden noch in Richtung "Alpenfestung" getrieben und in den ersten Tagen des Mai 1945 in Oberbayern oder Tirol endlich befreit.

Auch im Bereich des rechtsrheinischen KZ-Komplexes Natzweiler mussten Gedenkfeiern wegen der Pandemie abgesagt werden: in Osterburken/Adelsheim im Bereich der "Neckarlager" ebenso wie die zentrale Feier bei dem am 7. April 1945 ebenfalls befreiten ehemaligen Kranken- und Sterbelager Vaihingen/Enz. Doch in diesen Tagen des Frühlings 2020 denken Familien aus ganz Europa an die vielen kleinen Orte in Südwestdeutschland, an denen sich vor 75 Jahren das Schicksal ihrer Lieben entschied.

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