Neckar-Odenwald-Kreis

So viele Risiken wie nie zuvor erschweren Kalkulation

Bei der Haushaltsrede des Landrats fordert er: "Maßhalten ist das Gebot der Stunde."

20.10.2022 UPDATE: 20.10.2022 06:00 Uhr 5 Minuten, 57 Sekunden
Das Verwaltungsgebäude des Landratsamt in Mosbach platzt zwar aus allen Nähten, 2023 gibt es aber trotzdem erst einmal nur Geld für eine neue Fotovoltaikanlage. Foto: schat

Neckar-Odenwald-Kreis. (jam) Risiken und Unwägbarkeiten prägen den Haushaltsplan, den der Kreistag am Mittwoch bei seiner Sitzung in Sennfeld eingebracht hat. Dr. Achim Brötels Ziel, einen "verantwortbaren, ausgewogenen und trotz allem zuversichtlichen Kreishaushalt" aufzustellen, beißt sich mit "Schildbürgerstreichen" der großen Politik, einer davongaloppierenden Inflation, einem "Fachkräftemangel in ungeahnten Dimensionen" und den Allmachtsfantasien eines "größenwahnsinnigen Irren", wie es der Landrat in seiner Haushaltsrede treffend formuliert.

"Ein starkes Signal an die Menschen in unserem Kreis"

Ein Blick auf die nackten Zahlen, die er dabei erwähnt, vermitteln dagegen das Bild eines Etats, der besseren Zeiten entstammen könnte. Der Neckar-Odenwald-Kreis kommt – so sieht es der Entwurf vor – ohne Neuverschuldung aus, kann sogar einen Kredit in Höhe von 1,18 Millionen Euro abbauen. Trotz erheblichen Preissteigerungen in allen Bereichen, höherem Personalbedarf in der Verwaltung sowie zusätzlichen Aufgaben und steigenden Fallzahlen im ohnehin schon kostspieligen Sozialbereich ist man im Landratsamt optimistisch, "die Kreisumlage nur um maßvolle 0,75 Prozent auf dann 28,0 Prozent erhöhen" zu müssen. Möglich macht diesen Kurs die Liquidität aus den guten Vorjahresergebnissen. Denn der Kreis muss im kommenden Jahr auf immerhin 8,3 Millionen Euro aus seiner Rücklage zurückgreifen, um seine Städte und Gemeinden in diesen Krisenzeiten nicht über Gebühr zu belasten. Brötel will damit "nicht zuletzt an die Menschen in unserem Kreis ein starkes Signal aussenden".

In seiner Rede macht der Landrat keinen Hehl daraus, dass der Entwurf für den neuen Haushalt risikobehaftet ist. "Wir haben alle Haushaltsansätze selbstverständlich wie immer nach bestem Wissen und Gewissen geplant", sagt er, appelliert aber gleichzeitig an die Bereitschaft aller, bei Bedarf "nachzusteuern".

Die Fortsetzung des Neubaus für das Ganztagsgymnasium Osterburken ist die einzige größere Investition, die im Kreishaushalt für 2023 vorgesehen ist. Grafik: Muffler Architekten

Das könnte zum Beispiel nötig werden, wenn das Land im kommenden Jahr nicht länger die Differenz zahlt, die ein "Schildbürgerstreich" des "beratungsresistenten" Bundes den Landkreises aufbürdet. Laut dem Landrat handelt es sich nämlich um "eine der krassesten Fehlentscheidungen der Politik", dass ukrainische Flüchtlinge höhere Zahlungen erhalten als andere Asylbewerber – und das zulasten der Kreiskasse. Für 2023 geht es Brötel zufolge um immerhin 2,28 Millionen Euro.

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Ein zweites Risiko für den Haushalt des Neckar-Odenwald-Kreises birgt die Steuerschätzung, ein drittes der neue Tarifvertrag der Johannes-Diakonie, ein viertes das "Märchen" von der kostenneutralen Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, ein fünftes die drohenden Kostensteigerungen aufgrund der Pflegereform im Juli 2023. "So viele Unbekannte wie in diesem Jahr hat es in der Tat noch nie gegeben", fasst Brötel zusammen. In all diesen Bereichen hat die Kämmerei eher optimistisch als konservativ geplant. Was das für die Belastbarkeit des Haushalts heißt, bleibt erst einmal offen. "Nach dem Winter werden wir hoffentlich mehr Klarheit haben", sagt Brötel.

Manch andere bedenkliche Entwicklung hat dagegen längst Einzug in den Haushaltsplan gehalten. So geht das Landratsamt inzwischen nur für Strom und Heizung von einem Mehrbedarf in der Größenordnung von 1,5 Millionen Euro aus. Noch dazu sind Probleme wie Inflationsraten, "wie es sie seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben hat", der Fachkräftemangel, wegfallende Absatzmärkte und unterbrochene Lieferketten wohl längerfristiger Natur und trüben die Aussichten auf die kommenden Jahre. "In den nächsten Kreishaushalten werden wir das dann ebenfalls deutlich zu spüren bekommen", prophezeit Brötel.

Deshalb gilt schon heute: "Maßhalten ist das Gebot der Stunde!" Größere Investitionen halten Landrat, Kämmerei und Verwaltung derzeit nicht für verantwortbar – trotz Handlungsbedarf zum Beispiel bei der prekären Unterbringungssituation der Verwaltung in Mosbach und dem dringend benötigten Bettenhaus der Neckar-Odenwald-Kliniken in Buchen. Trotzdem gibt es natürlich Investitionen in die Infrastruktur vor Ort.

Bildung als zentrale Zukunftsaufgabe

Die große Ausnahme von dieser Sparstrategie ist der Ersatzneubau am Ganztagsgymnasium Osterburken, der fortgeführt wird. 2023 sind dafür weitere 10 Millionen Euro veranschlagt. Die Gesamtkosten werden auf 30,6 Millionen Euro geschätzt – weil ein Viertel der Arbeiten noch nicht vergeben sind, droht allerdings noch die eine oder andere unliebsame Überraschung. Brötel, der das Thema Bildung als zentrale Zukunftsaufgabe sieht, bleibt dennoch optimistisch: "Dadurch, dass wir auch in besseren Zeiten Maß gehalten haben, haben wir jetzt einen Puffer für die anstehenden Investitionen." Der Kreis hält an seinem Ziel fest, dass das Schuljahr 2024/25 bereits im neuen Gebäude beginnen soll.

Krankenhaus am seidenen Faden

"Ohne Krankenhäuser wären wir heute längst schuldenfrei – und das als steuer-kraftschwächster Landkreis von allen", betont der Landrat dann bei seiner Herzensangelegenheit, dem Wohlergehen der Neckar-Odenwald-Kliniken. Denn der Erhalt der so wichtigen Einrichtungen in Buchen und Mosbach fordert Jahr für Jahr einen millionenschweren Tribut von seinem Träger. Die Strukturveränderungen, die der Kreistag in den vergangenen Jahren nach teils emotionaler Diskussion in die Wege geleitet hat, haben immerhin bereits geholfen, dass die Rechnung für den Neckar-Odenwald-Kreis zuletzt geringer ausfiel. 2023 soll der Jahresverlust der Kliniken, den der Landkreis ausgleicht, 5 Millionen Euro nicht überschreiten. "Es wird zumindest sehr sportlich werden, dieses Ziel ohne politische Unterstützung zu erreichen", weiß der Landrat und ergänzt: "Es kann und es darf nicht sein, dass die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung letztlich am seidenen Faden der finanziellen Durchhaltefähigkeit eines Trägers hängt."

Energiewende im Kreis

Während der Neckar-Odenwald-Kreis bei der Steuerkraft die rote Laterne trägt, belegt er im Ranking der erneuerbaren Energien landesweit schon seit Jahren nahezu überall Spitzenplätze. 2023 investiert der Kreis 300.000 Euro in zusätzliche Fotovoltaikanlagen auf den Dächern seiner Verwaltungsgebäude in Mosbach – mit dem Ziel, den eigenen Strombedarf zu decken. Zudem sollen neue Elektrofahrzeuge den alten Fuhrpark nach und nach ersetzen. Noch dazu soll ein Konzept erstellt werden, das den Bedarf bei der Ladeinfrastruktur im Kreis aufzeigt.

Dynamik für den ÖPNV

Den ÖPNV, den der Kreis aktuell aufgrund der hohen Energiepreise finanziell stützen muss, will der Kreistag mithilfe von neuen dynamischen Fahrgastinformationsanlagen an den Bushaltestellen aller Hauptorte attraktiver gestalten.

Straßen erhalten und ausbauen

Bei seinen Kreisstraßen setzt der Neckar-Odenwald auf das Prinzip "Erhalt vor Neubau". Für das Deckenprogramm sind 1,25 Millionen Euro eingeplant. Grünes Licht gibt es zudem für den Ausbau der K3969 zwischen Waldauerbach und Schloßau samt parallel verlaufendem Radweg, der im Sommer 2023 starten soll. Auch soll ("endlich") der Radweg entlang der K3917 zwischen Hollerbach und Oberneudorf gebaut werden. Möglicherweise starten außerdem Ende 2023 vorbereitende Arbeiten für den Restausbau der K3900 zwischen Seckach und der Eberstadter Tropfsteinhöhle.


Dr. Achim Brötel warnt vor gefährlichen Entwicklungen

Neckar-Odenwald-Kreis. (jam) Landrat Dr. Achim Brötel (Foto: rüb) ist bekannt für seine wortgewandten Reden, in denen er den Ist-Zustand in Kreis, Land und Bund aufzeigt und zugleich mit Tacheles anprangert, welche Entwicklungen seiner Meinung nach in die falsche Richtung führen. Seine Haushaltsrede am Mittwoch war da keine Ausnahme. Vom Coronavirus über den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg hin zur drohenden Rezession und dem sozialen Abstieg eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung kreisten die Themen.

"Die Pandemie ist noch nicht vorbei", warnte Dr. Achim Brötel eingangs. Die aktuell "erschreckend hohen Infektionszahlen" stellen seiner Meinung nach nur die Spitze des Eisbergs dar: "Corona ist entgegen der landläufigen Meinung im klinischen Alltag noch immer sehr präsent." Einen Silberstreifen hatte er trotzdem entdeckt: Die Krankheitsverläufe seien in der überwiegenden Zahl der Fälle eher mild, "unsere Krankenhäuser sind bei weitem nicht mehr so stark belastet".

Neben dem "kleinen fiesen Virus" beschäftigt den Landrat aktuell vor allem ein "größenwahnsinniger Irrer". Brötel: "Die hässliche Fratze des Krieges ist zurück" – und das in Europa. Schon jetzt hat die Bundesrepublik Deutschland mehr als eine Million Geflüchtete allein aus der Ukraine aufgenommen. Und die Situation im Osten des Kontinents bleibt verheerend, wie der Landrat betonte: "Bei den zu uns geflüchteten ukrainischen Familien treffen inzwischen täglich – nahezu unbemerkt von der medialen Öffentlichkeit – eben auch Todesmeldungen der zurückgebliebenen Ehemänner, Väter oder Großväter ein." Noch dazu steigen die Flüchtlingszahlen aus anderen Regionen momentan rasant an.

Für Dr. Achim Brötel steht fest: Putins Überfall auf den souveränen Staat hat das Potenzial, bei uns Verheerendes anzurichten. "Der russische Angriff auf die Ukraine gilt nicht nur den Menschen dort. Er gilt vielmehr auch uns und unserer Lebensweise in Europa." Er könne dazu führen, dass der soziale Frieden nachhaltig gefährdet wird, dass der deutsche Staat sich noch höher verschulden muss, dass die Gesellschaft insgesamt vor eine politische Zerreißprobe gestellt wird, dass die Wirtschaft ins Wanken gerät und dass Menschen ihre Jobs und ihre Ersparnisse verlieren.

Politische Zerreißprobe

"Wir müssen vor allem diejenigen im Blick behalten, die bislang zwar noch nicht bedürftig sind, es aber sehr schnell werden können, wenn die Entwicklung so weitergeht", warnte Landrat Brötel. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat vor kurzem Zahlen veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass 40 Prozent der Deutschen keinerlei finanzielle Rücklagen haben. Diese Menschen, so Brötel, "sehen den sozialen Abstieg schon unmittelbar vor sich". Die Konsequenzen lassen sich dann zum Beispiel im Bereich der Schuldnerberatung ablesen. "Die steigenden Preise werden den Personenkreis der Leistungsbezieher naturgemäß besonders stark belasten und dann dazu führen, dass viele Menschen ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können."

Noch dazu befürchtet Brötel die gebündelten Auswirkungen der Krisen auf den Pflegesektor. Der Landrat rechnet damit, dass immer mehr Menschen die steigenden Kosten im Heim nicht mehr aus eigener Kraft zahlen können und deshalb auf Sozialhilfe angewiesen sein werden. Schon jetzt liege die monatliche Zuzahlung in Baden-Württemberg bei 2619 Euro – bundesweit sei die Tendenz weiter stark steigend. "Wer bitte aber hat denn so viel Rente?", wollte der Landrat am Mittwoch von seinen Zuhörern während der Kreistagssitzung wissen. "Wenn hier nicht endlich wirksam gegengesteuert wird [...], wird das System absehbar so nicht mehr überlebensfähig sein", warnte Dr. Achim Brötel.

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