Wechselbalg - Das fremde Kind in der Wiege (Folge 1)
Dämonischer Plagegeist oder schwere Krankheit: Das hat es mit den Wechselbälgern auf sich.

Von Noemi Girgla
Schönbrunn. Sie sind verfressen, meist hässlich, kommen nicht aus dem Bett – kurz: Sie stören den Alltag. Und dennoch erfreuen sich Wechselbälger in der heutigen Popkultur einer gewissen Beliebtheit.
Doch was steckt eigentlich hinter dem weltweiten Phänomen der durch übernatürliche Wesen vertauschten Kinder? Dieser Frage widmet sich die erste Folge der sechsten Staffel des RNZ-Podcasts "Sagenhafter Odenwald".
Erzählforscherin und Kulturwissenschaftlerin Janin Pisarek ist schon oft auf Geschichten über Wechselbälger gestoßen – und auch im Kleinen Odenwald, in Schönbrunn, findet sich eine Sage dazu. "Beim Wechselbalg handelt es sich um ein dämonisches Wesen, das gegen einen menschlichen Säugling ausgetauscht wird", fasst die Erzählforscherin zusammen.
Er sei ein Paradebeispiel für den dauerhaften Einbruch des "Anderen" in den eigentlich geschützten und häuslichen Bereich der Menschen, etwas Fremdes und Abnormes.
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Kein Wunder also, dass die betroffenen Familien versuchen, den Eindringling wieder loszuwerden. Doch dafür muss sich der Wechselbalg erst einmal verraten. "Man überführt ihn, indem man ihn mit einer irrsinnigen Handlung zum Lachen bringt und damit zu einem Geständnis bezüglich seines Alters oder Wesens zwingt", erklärt Pisarek.
Denn alles, was völlig absurd erscheint, wie das Brauen von Bier in Eierschalen oder das Fegen der Stube mit dem Besenstiel nach unten, freut den Wechselbalg. "Sein Lachen bricht den Zauber, was einen Rücktausch möglich macht."
Doch gibt es auch Überlieferungen zu weitaus grausameren Praktiken, um einen Wechselbalg aus dem Haus zu bekommen. Etwa das Werfen auf den Misthaufen oder massive körperliche Gewalt. "Das soll dazu führen, dass die übernatürlichen Eltern gezwungen sind, ihr Kind direkt zurück zu tauschen, um es vor dem sicheren Tod zu bewahren. Diese Methoden verbreiteten sich unter anderem durch Luthers Tischreden", ordnet Pisarek ein.
Das Motiv des Wechselbalgs taucht in schriftlicher Form bereits um 1000 nach Christus auf. Anfang des 13. Jahrhunderts finden sich dann gehäuft Beschreibungen mit dem konkreten Ausdruck "Wechselkind". "Besonders populär wurde das Thema mit Aufnahme in den Hexenhammer oder auch durch Martin Luther, der die Wechselbalg-Tradition stark prägte und letztlich auch die Brüder Grimm inspirierte", gibt die Kulturwissenschaftlerin einen Überblick.
Bekannt sind die Erzählungen hauptsächlich in Nord- und Mitteleuropa, sowie im slawischen und südosteuropäischen Raum. "Wir haben aber auch Belege außerhalb dieses Verbreitungsraums, zum Beispiel aus Armenien oder Indonesien. Die basieren jedoch höchstwahrscheinlich auf europäischem Einfluss", erklärt Pisarek.
Gehalten hat sich die Vorstellung von Wechselbälgern bis ins 19. Jahrhundert – und das, obwohl sich schon seit Mitte des 15. Jahrhunderts Ärzte dafür einsetzten, dass die betroffenen Kinder als kranke und nicht dämonische Wesen gesehen werden sollten.
"Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Zusammenspiel zwischen oraler Tradition, mittelalterlichen Traktaten und reellen Krankheiten besteht", erläutert Pisarek und verweist auf die 1935 erschienen Dissertation von Gisela Piaschewski. "Darin untersuchte sie Volksüberlieferung wie auch physische und medizinische Anschauungen in Bezug auf Rachitis, Kretinismus und Hydrocephalus als Ursprung der Wechselbalgsagen."
Dass eine Verbindung naheliegend erscheint, wird mit dem menschlichen Kausalitätsbedürfnis erklärt. "Ein zunächst unauffälliges, gesundes Kind weist binnen kürzester Zeit wesentliche Abweichungen sowohl äußerlich als auch im Verhalten auf", führt Pisarek aus.
"Es scheint nicht mehr dasselbe zu sein." Dem einfachen Denken nach würden dann aus einem Objekt zwei: das gesunde und das kranke Kind – oder eben das eigene und das fremde.
"Der Verdacht fällt vor allem auf Krankheiten, die auf einer Unterfunktion der Schilddrüse beruhen", vermutet Pisarek. "Es handelt sich um eine durch Hormonmangel verursachte Entwicklungsstörung bei Neugeborenen, die zu irreversiblen Hirnschäden und geistiger Retardierung führt."
Diese These stützt sie auf die beschriebenen Merkmale von Wechselbälgern. Dazu zählen ein Kropf, Zwergwuchs, ein aufgedunsenes Gesicht oder eine trockenschuppige Haut sowie die oft erwähnte kurze Lebensdauer der Kinder. Umso erschreckender mutet unter diesem Aspekt der jahrhundertelange Umgang mit "Wechselbälgern" an.
Ist die eingangs erwähnte Romantisierung dieser Sagengestalten in der heutigen Popkultur dann überhaupt moralisch vertretbar? "Ich bin da persönlich immer recht hin- und hergerissen. Einerseits freut es mich, wenn die Narrative, Motive und Figuren in den heutigen Medien lebendig gehalten werden.
Aber ich würde mir dennoch oft auch einen kritischeren, reflektierteren Umgang mit unserem kulturellen Erbe wünschen", meint die Erzählforscherin. "Gerade bei so einem Thema, das eben auch eine weitreichende Ernsthaftigkeit inne hat." Ein Grund mehr, sich im RNZ-Podcast mit genau solchen Dingen zu befassen.
Info: Die neuen Folgen erscheinen jeweils freitagabends im August.