Auschwitz-Überlebende über das Leben in Kiew im Krieg
"Putin hat Kiew nicht vergessen": Anna Strishkowa erzählt im Gespräch mit der RNZ über das Leben im Krieg in der ukrainischen Hauptstadt.

Von Olivia Kaiser
Mannheim. Angesichts der Dauerbombardierung von Städten in der Ostukraine, dem unermesslichen Leid der Bewohner von Mariupol oder den Gräueltaten, die in Butscha und anderen Vororten Kiews nach Abzug der russischen Truppen bekannt geworden sind, gehe es ihr vergleichsweise sehr gut, erzählt Anna Strishkowa. Die Auschwitz-Überlebende harrt mit ihrer Tochter Olga in Kiew aus. Täglich ist sie in Kontakt mit dem Fotografen Luigi Toscano, der die Seniorin für sein Projekt "Gegen das Vergessen" fotografiert hat. Aufgrund der Vermittlung von Toscano konnte die RNZ vor einigen Tagen über eine Videoschalte mit Anna Strishkowa sprechen.
Sie sitzt in einem Sessel vor dem Fenster und schaut neugierig in den Bildschirm, winkt und lächelt. Das Gespräch ist mithilfe von Luigi Toscanos Bekannter Kateryna Ieskowa möglich, die sich zum Übersetzen zugeschaltet hat. Nachdem sich der russische Angriff nicht mehr so sehr auf die ukrainische Hauptstadt konzentriert, ist für Anna Strishkowa und ihre Tochter zumindest ein Stück weit der Alltag zurückgekehrt. "Mann kann wieder nach draußen, um Lebensmittel einzukaufen oder zur Apotheke zu gehen", erzählt die Seniorin. "Wir haben Strom und fließendes Wasser."
Aber man dürfe sich nicht zu sehr in Sicherheit wiegen: "Putin hat Kiew nicht vergessen", betont sie – die aktuellen Entwicklungen geben ihr Recht. Ihre Heimat zu verlassen, kommt für die Ärztin im Ruhestand aber weiterhin nicht infrage: "Kiew ist meine Stadt. Wie könnte ich sie verlassen, wenn so viele Menschen für sie kämpfen? Mein Platz ist hier."
Die beiden Frauen leben im neunten Stock eines Wohnblocks nahe des Präsidentenpalasts. Während des Luftalarms begaben sie sich immer in den geschütztesten Raum der Wohnung. "Wir haben keinen Fahrstuhl im Haus, deshalb konnte ich auch nicht in den Keller", berichtet sie.
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Anna Strishkowa kann immer noch nicht begreifen, dass "so etwas im 21. Jahrhundert geschehen kann". Fassungslos sei sie, wenn sie von den Leichen auf der Straße und den Massengräbern höre. "Dass zivilisierte Menschen anderen Menschen so etwas antun können, kann ich nicht begreifen", erklärt sie. Als kleines Kind hat sie schon einmal erlebt, zu welchen Gräueltaten Menschen fähig sind. Sie wurde nach Auschwitz verschleppt, wo Josef Mengele medizinische Experimente an ihr durchführte. Ihre Eltern wurden ermordet, nach der Befreiung des Todeslagers durch die Rote Armee hatte das kleine Mädchen keine Identität mehr. Sie weiß bis heute nicht, ob Anna ihr richtiger Name ist oder wann sie geboren wurde.
Ablenkung findet Anna Strishkowa in ihren Alltagsbeschäftigungen. "Kochen, putzen, aufräumen, telefonieren – ich habe immer etwas zu tun." Zudem ist die Seniorin die stellvertretende Leiterin des Verbands der KZ-Häftlinge in der Ukraine. Daher hält sie Kontakt mit einigen Holocaust-Überlebenden und unterstützt einzelne Personen, wenn sie Hilfe brauchen. Die Anteilnahme, die sie seit Luigi Toscanos Posts über sie in sozialen Netzwerken erfährt, berühren die Frau.
"Das ist eine moralische Unterstützung", erklärt sie. "Es ist wichtig, dass die Menschen sich dafür interessieren, was in der Ukraine passiert."



